Mit Rollstuhl und Sauerstoffflasche

Mitarbeiterin Waltraud Schwendele blickt auf ein Vierteljahrhundert Geschichte zurück

Wenn Historiker später einmal die Vor- und Frühgeschichte der AIDS-Hilfe Ulm/Neu-Ulm/Alb-Donau erforschen, wird die Spur sie zur Volkshochschule der Stadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt führen. Dort fand 1979 – also in der Zeit, in der die Begriffe HIV und Aids noch gar nicht erfunden waren – ein Seminar zum Thema Homosexualität statt, aus dem sich zuerst ein schwul-lesbischer Stammtisch und dann die Schwulengruppe „Schwulm“ entwickelte. Einen zweiten Strang werden sie in der Infektionsambulanz der Universitätsklinik entdecken, wo 1986 die ersten Aidspatienten der Region behandelt wurden und eine Ärztin aus der Abteilung Medizinische Psychologie deren Interesse an einer Selbsthilfegruppe weckte. Schließlich fanden beide Linien zusammen, und so kam es, dass die Aidshilfe bei ihrer Gründung im Frühling 1987 bereits 44 Mitglieder hatte. Im Lauf des ersten Jahrs sollte die Zahl auf über 100 anwachsen.

Fast von Anfang an und zunächst ehrenamtlich dabei ist Waltraud Schwendele, damals Studentin der Sozialarbeit. Sie erinnert sich an die Anwohnerproteste bei der Suche nach einem Domizil und daran, wie die Mitglieder dann einen ehemaligen Schreibwarenladen fanden und in Eigenregie umgestalteten. Der erste hauptamtliche Mitarbeiter konnte über eine sechsmonatige ABM-Maßnahme für die Verwaltung angestellt werden.

„Die erste Zeit war geprägt von schweren Krankheitsverläufen und vielen Todesfällen“, sagt Waltraud Schwendele, die 1989 im Rahmen des Bundesmodellprogramms zum Ausbau ambulanter Hilfen für Aidskranke eine Stelle bei der Arbeiterwohlfahrt antrat und für die Arbeit bei der Aidshilfe freigestellt wurde. Der Zungenbrecher „In Ulm und um Ulm und um Ulm herum“ hat hier eine ganz eigene Bedeutung: Die Aidshilfe deckt vier Landkreise ab und hat ein Einzugsgebiet von fast 100 Kilometern.

Zugleich war es die Zeit, in der Menschen mit HIV sehr schnell berentet wurden und die Selbsthilfeangebote gerne nutzten – nicht zuletzt die Ausflüge, selbst wenn es nur noch im Rollstuhl und mit Sauerstoffflasche ging. Zu den Klienten gehörten in Ulm auch HIV-infizierte Bluter, die selbstbewusst Raum für sich einforderten – anders als viele Gleichbetroffene in anderen Städten, die lieber nicht in den Dunstkreis von Schwulen und Drogengebrauchern geraten wollten.

Dass die Bürger in Ulm ihre Berührungsängste verloren, führt Waltraud Schwendele auch auf Markus Commerçons Engagement in der Stadt zurück. Der gelernte Bäckermeister, der im März 1996 mit 32 Jahren verstarb, hatte in drei Büchern sehr offen über seinen schweren Weg zum Coming-out, den Verlust seines Lebenspartners und seinen Kampf gegen die eigene Aidserkrankung und gegen den Behördendschungel geschrieben. Bevor die damalige Sozialministerin eine Festanstellung in der Aufklärungsarbeit der Aidshilfe zuließ, hatte er auf Einladung von Schulen oder Unternehmen schon unzählige Vorträge gehalten. Zu seiner Buchvorstellung im Ulmer Stadthaus kamen über 1.000 Zuhörer. „Er war ein Sonnyboy und konnte die Menschen für sich gewinnen“, erinnert sich Waltraud Schwendele. „Die Aidshilfe kam in der Zeit sogar auf über 600 Mitglieder.“

25 Jahre nach ihrer Gründung ist die AIDS-Hilfe Ulm/Neu-Ulm/Alb-Donau mit vier hauptamtlichen und 36 ehrenamtlichen Mitarbeitern nicht nur zum anerkannten Bestandteil des Hilfesystems, sondern auch des kulturellen Lebens in Ulm geworden: Ihr Rosenmontagsball zählt zu den gesellschaftlichen Ereignissen und ist immer schnell ausverkauft, und mit den JugendFilmTagen schafft sie es, großes Interesse für Filme und Themen zu wecken, denen der große Kinoerfolg in der Regel versagt bleibt.

Waltraud Schwendele arbeitet heute in der Prävention für Schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben, und konnte erleben, dass das wöchentliche Mittwochscafé der Aidshilfe sich nicht mehr so füllt wie früher. Die Menschen sind jetzt berufstätig, stehen im Leben und kommen nur noch, wenn sie eine bestimmte Unterstützung brauchen. Bei einem Teil der Klienten nehmen allerdings die psychischen Probleme und der Betreuungsbedarf zu. Wenn es nach ihr geht, soll es kein 50-jähriges Jubiläum der Aidshilfe in Ulm geben. Ihre drei Wünsche an die Zukunft lauten deshalb: die Heilung der HIV-Infektion, eine sichere Impfung für die Bevölkerung weltweit und eine ausreichende Finanzierung der Aidshilfe-Arbeit, solange die ersten beiden Wünsche noch Utopie bleiben.

(af)