Diamorphingestützte Behandlung Opiatabhängiger in Deutschland – Stellungnahme zur Weiterentwicklung

Die Kampagne „100.000 Substituierte bis 2022“ hat in den letzten 18 Monaten mit verschiedenen Maßnahmen und Interventionen einen Beitrag geleistet, die Substitution opioidabhängiger Menschen in rechtlicher, medizinischer und psychosozialer Hinsicht weiterzuentwickeln. Zudem galt es, die Behandlungsform im Fokus aller Akteur*innen zu halten und zu einem Wissenszuwachs bei Patient*innen und nichtmedizinischen Mitarbeiter*innen von Aids- und Drogenhilfen beizutragen. Zum Abschluss der bis zum 31.12.2022 befristeten Kampagne wenden wir uns mit dieser Stellungnahme der diamorphingestützten Behandlung zu.

Diese Stellungnahme soll sowohl der Politik, Ärzt*innen und Ärzten, der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Fachverbänden und allen Akteuren im Kontext der Substitutionsbehandlung eine Diskussionsvorlage zur Weiterentwicklung dieser Behandlungsform bieten.

Einleitung

Zwischen 2001 und 2007 wurde das Modellprojekt zur heroingestützten Substitutionsbehandlung in sieben Städten Deutschlands durchgeführt. Im Rahmen der klinischen Studie wurden die Effekte der Diamorphinbehandlung im Vergleich zur Substitution mit Methadon im langfristigen Verlauf untersucht.

Die positiven Ergebnisse des Modellprojekts bildeten die Grundlage der in Deutschland im November 2009 erfolgten Zulassung von Diamorphin (Diaphin®) zum Einsatz in der Substitutionsbehandlung der Opiatabhängigkeit.

Sowohl im deutschen Modellprojekt als auch in internationalen Studien z.B. in Kanada, Spanien, Großbritannien zeigte sich die Überlegenheit der Diamorphinbehandlung gegenüber der oralen Methadonbehandlung in Hinblick auf die Haltequote und der gesundheitlichen Stabilisierung. Zudem reduzierte sich der Konsum von illegalem Heroin in fast allen durchgeführten Studien gegenüber der Methadongruppe signifikant.

Sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat verabschiedeten die zur Behandlungsdurchführung notwendigen Gesetzesänderungen im Jahr 2009. Im Ergebnis musste die Diamorphinbehandlung nicht mehr auf Basis von Ausnahmegenehmigung (zu einem wissenschaftlichen oder im öffentlichen Interesse liegenden Zweck) durchgeführt werden, sondern war als Regelbehandlung möglich. Damit die Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden konnte, verabschiedete der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) seine Richtlinien „Diamorphingestützte Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger“.

Seit dem 1. Oktober 2010 war die Diamorphinbehandlung über neue Gebührenziffern des EBM zu Lasten der GKV abrechenbar.

Erst nach umfangreicher Kritik der teilnehmenden Städte sowie verschiedener  Fachverbände wie der Deutschen Aidshilfe, Akzept e.V. und dem JES-Bundesverband an den Richtlinien, die in einigen Punkten über die gesetzlichen Vorgaben hinausgingen (tägliche 12-stündige Öffnungszeit, das Vorhalten dreier ärztlicher Vollzeitstellen sowie bestimmte räumliche und organisatorische Vorgaben), veränderte der G-BA seine Richtlinien zum Beginn des Jahres 2013.

Die aktuelle Versorgungslage Opiatabhängiger bezüglich der Behandlung mit Diamorphin ist heute, 10 Jahre nach Anpassung der G-BA Richtlinien, als nicht ausreichend zu bezeichnen. Laut Bericht zum Substitutionsregister 2022 entfallen lediglich 1,5 % aller verabreichten Substitutionsmittel auf die Substanz Dimorphin.

Aktuell werden Patient*innen in lediglich 14 Diamorphinambulanzen in Deutschland behandelt: Berlin (Patrida), Berlin (Praxiskombinat), Bonn, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Karlsruhe, Köln, München, Stuttgart, Unna, Wuppertal, Iserlohn. Hierbei ist anzumerken, dass seit 2010 lediglich sieben neue Ambulanzen eröffnet wurden, die nicht zu den ursprünglichen Modellstädten und Einrichtungen zu zählen sind.

Als größte Hindernisse auf dem Weg zu einer verbesserten, bedarfsorientierten Versorgungslage werden u.a. gesehen:

Aufnahmekriterien: Schwerstabhängigkeit, Mindestalter und Abhängigkeitsdauer

Der Begriff der „Schwerstabhängigkeit“ und die damit verbundenen Aufnahmekriterien für die Diamorphinbehandlung erweisen sich in der Praxis als problematisch. Sie untestellen der Opioidabhängigkeit einen Erkrankungsverlauf dessen Schwere sich an der Dauer der Abhängigkeit und an einem „Mindestalter“ messen lassen soll. Damit wird die Diamorphinbehandlung als eine Art „Ultima ratio“-Behandlung angesehen, deren Inanspruchnahme vielfach erst am Ende des heute vorgehaltenen medizinischen Spektrums steht.

Dies ist aus unserer Sicht unethisch und erinnert an den Beginn der Substitutionsbehandlung in den 90er Jahren. Dort war der Zugang zur Substitutionsbehandlung an eine Aids-Erkrankung, später dann an eine HIV-Infektion gekoppelt. Eine Hierarchisierung der verschiedenen Substitutionsbehandlungen wird dem Wesen der Opioidabhängigkeit nicht gerecht. Stattdessen erfordert diese eine individuelle Behandlungsplanung, in der möglichst alle Therapieoptionen zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung stehen sollten.

Aufnahmekriterium: „schwerwiegende psychische und somatische Störung“

Hier setzt sich die Unschärfe der konstruierten Kategorie der ,Schwerstabhängigkeit‘ fort. Es erschließt sich nicht, dass im Gegensatz zur oralen Substitutionsbehandlung Ptient*innen, die sich für eine diamorphingestützte Behandlung entscheiden, eine „schwerwiegende psychische und somatische Störung“ aufweisen müssen.

Zudem ist die Einschätzung ab wann eine psychische oder somatische Suchtfolgestörung als schwerwiegend einzustufen ist, höchst subjektiv.

Wir betrachten dies ebenfalls als unethisch und fachlich nicht begründbar! Es geht um die Opioidgebrauchsstörung, nicht um neue Kategorien oder die Einführung neuer, wissenschaftlich nicht belegbarer Begrifflichkeiten wie „Schwerstabhängigkeit“.

Aufnahmekriterium: 6-monatige Substitutionsbehandlung

Mit dieser Zugangshürde wird der Ultima-Ratio-Charakter der Diamorphinbehandlung unnötigerweise verstärkt. Es gibt aus unserer Sicht keine medizinische Grundlage, die eine vorherige Behandlung mit herkömmlichen Medikamenten zur Substitution begründet.

Berichte aus der Praxis zeigen, dass es Patient*innen gibt, die nur kurzfristige Vorbehandlungszeiten aufweisen, da sie aufgrund psychiatrischer und somatischer Begleiterkrankungen oder aus auf die Struktur der Therapie zurückzuführenden Gründen die Behandlung nach kurzer Zeit beenden. Behandlungsabbrüche stellen ein hohes Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko dar. Gerade diese Patient*innengruppe könnte von der diamorphingestützten Behandlung profitieren. Wir sehen in dieser Voraussetzung eine Ausblendung des Mortalitätsrisikos, dem Menschen mit Opioidgebrauchsstörungen unter den Bedingungen der Illegalität permanent – und nicht erst nach 6 Monaten – ausgesetzt sind.

Zudem gibt es eine Vielzahl von opioidabhängigen Menschen, die sich ausschließlich illegal mit Heroin versorgt haben und aus diesem Grund keine Zeiträume der Substitution aufweisen. Dieser großen Gruppe von Menschen wird der Zugang zur Diamorphinbehandlung kategorisch verwehrt.

Aufnahmekriterium: Psychosoziale Betreuung

Die begleitende psychosoziale Betreuung kann ein wichtiger Bestandteil der Substitutionsbehandlung sein. Dies gilt auch für die diamorphingestützte Behandlung. Die Novellierung der BtmVV führte zu einer Klarstellung der Freiwilligkeit der Inanspruchnahme der psychosozialen Betreuung.

Die Finanzierung der psychosozialen Betreuung ist bundesweit uneinheitlich geregelt, und in Teilen nicht existent. Zudem besteht die Möglichkeit, dass eine temporäre oder dauerhafte Nichtinanspruchnahme einer PSB bescheinigt werden kann. Es erschließt sich nicht, warum für die diamorphingestützte Behandlung eine verpflichtende PSB fortbestehen soll. Auch hier gilt, es über eine Vereinheitlichung der Richtlinien eine Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der diamorphingestützten Behandlung zu verdeutlichen.

Veränderung der Rahmenbedingungen

Die Rahmenbedingungen der Diamorphinbehandlung in Deutschland müssen verändert werden, damit mehr Menschen mit einer Opioidabhängigkeit von dieser Behandlungsform profitieren und ihre Lebensqualität erhöhen können.

Folgende Veränderungen sind nötig:

Diversifizierung der Applikationsformen

Wenngleich seit der Änderung der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung im Jahr 2017 verschiedene Darreichungsformen von Diamorphinpräparaten zulässig sind, erfolgt die Diamorphinbehandlung in Deutschland aktuell schließlich intravenös. Welche Relevanz die Diamorphinbehandlung mit Tabletten haben kann, zeigt sich u.a. in der Schweiz, wo etwa 1/3 der Patient*innen diese Applikationsform nutzen.

Durch eine orale Diamorphinbehandlung würde sich die Zielgruppe für eine solche Behandlung deutlich erweitern. Aktuelle Daten aus Drogenkonsumräumen zeigen, dass der Anteil des inhalativen Konsums steigt und in vielen Städten mehr als 50% der Heroingebraucher*innen aus verschiedenen Gründen vom intra-

Venösen zum inhalativen Konsum umgestiegen sind. Gleichsam gilt es neue Applikationsformen, wie z.B. die nasale Gabe, wie sie aktuell in der Schweiz angewendet wird, aufmerksam zu verfolgen und eine mögliche Erweiterung der Anwendung auch in Deutschland zu prüfen. Alle an der Weiterentwicklung der Diamorphinbehandlung interessierten Akteure aus Politik, Industrie und Praxis sowie von Fachverbänden und Interessensgruppen sind aufgerufen, ihre Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und Diversifizierung der Diamorphinbehandlung zu nutzen.

Hohe Kosten durch Sicherungskonzepte

Ein Blick in die Räumlichkeiten zur Bevorratung und der Zubereitung/Abgabe von Diamorphin erinnert eher an Banken als an medizinische Praxen (z.B. Tresore, verstärkte Wände, besondere Bauweise). Diese Art der Sicherung ist mit exorbitanten Kosten verbunden, die das Entstehen neuer Ambulanzen deutlich erschwert oder gar verhindert.

Diese Sicherungskonzepte unterstreichen ebenfalls den besonderen Charakter der Diamorphinbehandlung in nicht notwendiger Art und Weise. Im Gegensatz hierzu werden die herkömmlichen Wirkstoffe (z.B. Levomethadon, Methadonrazemat, Buprenorphin, retardiertes Morphin), deren Einnahme für opiatnaive Menschen und in hohen Dosen auch für opiatgewöhnte Menschen potenziell lebensbedrohlich oder tödlich verlaufen kann, während der Öffnungs- zeiten von Praxen und Ambulanzen ohne besondere Sicherungsmaßnahmen aufbewahrt. Eine Aufbewahrung und Bevorratung mit gleichen oder ähnlichen Sicherheitsstandards, die sich seit mehr als 30 Jahren in der Substitutionsbe- handlung bewährt haben, könnte in maßgeblicher Weise zu einer Kosten- reduktion beitragen und das Entstehen neuer Standorte für die Diamor- phinbehandlung unterstützen.

Miteinander von Diamorphinambulanz und dem lokalen System der Suchtkrankenhilfe

Die in Paragraph 5a BTMVV geforderte Nachweisführung über die „Einbindung in das lokale System der Suchtkrankenhilfe“ darf nicht dazu führen, die Eröffnung einer Diamorphinambulanz von der Deutungshoheit und Gunst einzelner Einrichtungen abhängig zu machen. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass in einer Stadt/Gemeinde ohne jedwede existente Suchtkrankenhilfe nie  eine Diamorphinambulanz gegründet werden dürfte, da die Einbindung in eine nicht existente Drogenhilfestruktur von vornherein eine Errichtung verunmöglichen würde.

Selbstverständlich sollten alle Akteur*innen in einem Miteinander die Vorteile der Errichtung einer Diamorphinambulanz und die für die Patient*innen sich ergebenden neuen Möglichkeiten in den sich dann ohnehin ergebenden Kooperationsbeziehungen ausloten.

Neue Modelle der Diamorphinbehandlung

Aktuell gibt es vor allem in Nordrhein-Westfalen intensive Bemühungen neue Standorte für die Diamorphinbehandlung einzurichten. Zu unserer Überraschung stoßen diese Bemühungen auf Vorbehalte von Seiten der Drogenhilfe. Einer Bewertung dieser Vorkommnisse enthalten wir uns an dieser Stelle.

Für uns muss allerdings immer handlungsleitend bleiben, dass Eigeninteressen von Trägern sowie Bestrebungen etwaige Alleinstellungsmerkmale zu erhalten gegenüber Interessen, der Bereitstellung zusätzlicher Behandlungsmöglichkeiten nachrangig zu betrachten sind. Alle Akteur*innen müssen dazu beitragen Kooperationen im Sinne von Opioidkonsument*innen anzustreben und die Weiterentwicklung der Substitutionsbehandlung mit Diamorphin sowie mit der gesamten Palette von Medikamenten zur Substitutionsbehandlung zu unterstützen.

Novellierung der Finanzierung der Substitutionsbehandlung

Aktuell ist eine Substitutionsbehandlung dann besonders lukrativ, wenn Patient*innen möglichst oft oder gar täglich zur Einnahme des Medikaments in die Praxis kommen. Es gibt Hinweise, dass insbesondere in Praxen oder Ambulanzen, die ausschließlich substituierte Patient*innen behandeln nur ein gewisser Teil der Patient*innen – unabhängig von ihrer Eignung – eine Take-Home-Verordnung erhalten können. Es gilt daher neue Finanzierungsformen vorbehaltlos zu diskutieren (wie z.B. das IGES Konzept: www.iges.com)

Berlin, Januar 2023

Deutsche Aidshilfe, JES-Bundesverband, Akzept Bundesverband