Am Puls der Zeit: 25 Jahre Göttinger AIDS-Hilfe

In Göttingen scheinen die Uhren etwas anders zu gehen: Die AIDS-Hilfe feierte am vergangenen Wochenende mit einer großen Gala ganz unkonventionell ihr 25-jähriges Bestehen, obwohl streng genommen schon der 26. Geburtstag verstrichen ist. Umgekehrt hat sie sich nach ihrer Gründung im September 1985 sehr schnell entwickelt: Es gab sehr bald eigene Ausbildungen für die Telefonberater, eine Beteiligung am Bundesmodell „Ambulante Pflege“ und das Bewusstsein, dass Prävention sich gut über Kultur vermitteln lässt. Schon Im November 1988 fand ein Theaterfestival zum Thema Aids statt, und ein Jahr später präsentierte die AIDS-Hilfe die Reihe „AIDS im Film“. 1991 stellte sie feste Mitarbeiter für die schwule Prävention und die Selbsthilfe ein und installierte einen Spritzenautomaten, 1992 gründete sich die erste Selbsthilfegruppe für Angehörige. Und so geht es weiter: Die Kolleginnen und Kollegen haben ihr Ohr am Puls der Zeit und reagieren frühzeitig auf neue Herausforderungen. Jüngstes Beispiel sind Infoveranstaltungen in russischer Sprache für Russlanddeutsche.

Jörg Lühmann, der seine Laufbahn in der Göttinger AIDS-Hilfe 1986 als ehrenamtlicher Beratertrainer begann, 1991 die schwule Prävention übernahm und seit 1999 Geschäftsführer ist, erklärt diese Entwicklung zum einen mit der räumlichen und personellen Nähe zur Akademie Waldschlösschen. Die Bildungsstätte mit schwul-lesbischem Schwerpunkt war schon Mitte der achtziger Jahre Treffpunkt von HIV-Positiven aus dem gesamten Bundesgebiet und leistete in Göttingen Aufbauarbeit. „Das Waldschlösschen hatte einen ganz anderen Überblick und war für uns praktisch die Quelle für das frühzeitige Erkennen neuer Bedarfslagen“, sagt Jörg Lühmann. Zum anderen war Rita Süssmuth viele Jahre lang Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Göttingen und holte das Pflege-Modellprojekt in die Stadt, das der AIDS-Hilfe viel Know-how einbrachte und sie früh auf eine hauptamtliche Basis stellte.

Es ist immer eine Frage, mit welchem Humor man etwas verkauft

Ob das gesellschaftliche Klima in der 120.000-Einwohner-Stadt ein besonders liberales ist, kann Jörg Lühmann, der in Göttingen geboren ist und schon immer dort lebt, nicht sagen. Sicher ist nur: Er ist als „Berufsschwuler“, der unter anderem mit der Initiierung des Schwulenzentrums Strukturen im schwulen Leben und damit die Voraussetzung für die zielgruppenspezifische Prävention geschaffen hat, nie auf große Gegenwehr gestoßen. Auch dann nicht, als er auf dem Weihnachtsmarkt am Kinderkarussell Luftballons mit der Aufschrift „Wenn ich groß bin, werde ich schwul“ verteilte. Die Mütter hätten überwiegend positiv reagiert, denn: „Es ist immer eine Frage, mit welchem Humor man so etwas verkauft.“ In diesem Sinne konnte auch ein „Info-Bett“ auf dem Gänselieselfest mitten auf dem Marktplatz, in dem sich wahlweise Mann und Frau, Mann und Mann und Frau und Frau tummelten, die Bürger nicht verschrecken.

Auch wenn die Arbeit für und mit schwulen Männern in der Göttinger AIDS-Hilfe größten Raum einnimmt, suchen doch überdurchschnittlich viele Frauen und heterosexuelle Migranten die Beratungsstelle auf. Insgesamt begleitet das vierköpfige Team – neben Jörg Lühmann Caroline Herberhold, Simone Kamin und Cordula Weise - pro Jahr rund 170 Menschen mit HIV sowie rund 90 Zugehörige und Hinterbliebene. Dazu kommen mehr als 100 Präventionsveranstaltungen und Multiplikatorenschulungen – eine Arbeit, die ohne das ehrenamtliche Präventionsteam nicht zu leisten wäre. Nachwuchssorgen kennt die Göttinger AIDS-Hilfe dabei nicht: „Durch die Mitarbeit an den LesBiSchwulen KULTURTAGEN und den Kontakt zum Lehrstuhl für Geschlechterstudien finden wir vor allem Studenten, die sich für die Aidshilfe interessieren. Wir haben deshalb zum Glück immer ein junges, sehr engagiertes und kreatives Präventionsteam.“ Dann können die nächsten 25 oder 26 Jahre ja kommen.