Die Metropole auf dem Land: 25 Jahre AIDS-Hilfe Gießen
Wenn eine Stadt mit 78.000 Einwohnern im eher ländlich strukturierten Mittelhessen mehr als 30.000 Studenten hat, fällt vielleicht auch ihre Aidshilfe etwas aus dem Rahmen: In Gießen stemmen neun hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf sechseinviertel Stellen ein Aufgabenspektrum, das sich auch in einer Metropole sehen lassen könnte. Es reicht von der Beratung über die schwule Prävention und die Arbeit im Strafvollzug bis hin zu einem beachtlichen Fortbildungsangebot. Und wie es sich für eine Stadt mit Flair gehört, gibt es auch einen CSD und einen Run’n Roll for Help, an dem sich mehr als 1000 Läufer und die regionale Polit-Prominenz beteiligen.
„Das macht richtig Spaß“, sagt Alexander Schäfer und meint sein Vorstandsamt in der AIDS-Hilfe Gießen, das er seit 1997 bekleidet. Der Apotheker kam ursprünglich über den Arbeitskreis Ärzte in Kontakt mit dem damals noch jungen Verein, der bei den Ärzten für Akzeptanz in der Versorgung von Drogengebrauchern warb. Von Anfang an hat er die AIDS-Hilfe als Netzwerkorganisation erlebt, die sich den immer neuen Herausforderungen stellt und die passenden Partner ins Boot holt. So ist es auch zu einer engen Zusammenarbeit mit der 1995 eröffneten Infektionsambulanz des Uniklinikums gekommen, in deren Folge sich das ambulant betreute Wohnen zu einem wesentlichen Arbeitschwerpunkt der AIDS-Hilfe Gießen entwickelt hat. Zurzeit werden hier 42 Klienten begleitet und unterstützt – mehr als in mancher Großstadt.
Alexander Schäfer ist stolz auf eine „sehr, sehr gesunde Basis“ eines haupt- und ehrenamtlichen Teams, das hoch professionell und reflektiert arbeite „und die Dinge so vorantreibt, dass es Spuren hinterlässt“, zum Beispiel in der Mitarbeit an Qualitätshandbüchern und Leitlinien für die psychosoziale Beratung.
Ob allerdings die Bevölkerung in dem umfangreichen Einzugsgebiet von drei Landkreisen mit dem fortschrittlichen Team Schritt hält, wagt Alexander Schäfer zu bezweifeln: „Die Präventionsarbeit im Sinne von Schutz vor der Infektion hat in den 25 Jahren auf jeden Fall Früchte getragen. Das sehen wir ganz klar an einem Rückgang der Neuinfektionen. Aber im Umgang mit HIV-Infizierten gibt es immer noch immense Berührungsängste und sehr viel Unwissenheit selbst beim medizinischen Personal. Einige unserer Klienten erleben es, dass sie keine Arzttermine bekommen oder die Behandlung ihnen explizit verweigert wird.“
Wenn die Aidshilfe nach dem Prinzip des Case Management für hilfebedürftige Menschen mit HIV das für sie passende Versorgungsnetz zwischen Hausärzten, Pflegediensten und Reha-Einrichtungen strickt, bedeutet das deshalb auch, sich viel Zeit zu nehmen und den Ängsten der Beteiligten mit Verständnis zu begegnen. „Für die hauswirtschaftliche Versorgung eines Ex-Drogengebrauchers in einer benachbarten Kleinstadt haben wir Kontakt zum dortigen Dienstleister aufgenommen“, sagt Geschäftsführer Klaus Weber. „Da bekannt war, dass der Klient Hepatitis C- und HIV-positiv ist, hatten die Hauswirtschafterinnen am Anfang große Berührungsängste, es war schwer jemanden zu finden, der diese Aufgabe übernimmt. Der Klient hat lange mit ihnen gesprochen und uns dann dazugeholt, und es ist uns gelungen, ihre Ängste abzubauen.“
Ähnlich war es im Fall einer kenianischen Migrantin: „Einer der beiden Ärzte in der 4.000-Einwohner-Gemeinde hatte sie mit dem Verweis auf seine volle Praxis abgelehnt, der andere erklärte, kein ausreichendes Fachwissen zu haben. Wir haben ihn schließlich davon überzeugen können, dass er sich mit medizinischen Fragen jederzeit an die Infektionsambulanz der Uniklinik und mit psychosozialen Fragen an uns wenden kann. Und dann ging es.“
Diese Beispiele zeigen für Alexander Schäfer, dass die Sozialarbeiter und –pädagogen der AIDS-Hilfe Gießen „nicht vergessen, dass es um Soziales geht. Und deshalb bin ich froh, die Mitarbeiter da zu wissen, wo sie sind.“