„Eine ganz brutale Zeit“ in der heilen Welt

Paradies heißt ein Stadtteil von Konstanz, und für die vielen Tausend Touristen, die jährlich in die 85.000-Einwohner-Stadt am Bodensee zwischen Schwarzwald und Allgäu kommen, wird sie das auch sein: Schmucke Häuschen, enge Gässchen, im Hintergrund die Silhouette der Alpen – Idylle und heile Welt pur. Eine Tom’s Bar sucht man hier vergebens, und deshalb hat es schwule Männer schon immer eher in die großen Metropolen gezogen.

Dennoch fanden sich vor 25 Jahren schwule Männer mit Mitarbeitern aus der Drogenhilfe zusammen, um eine Aidshilfe zu gründen. In den ersten beiden Jahren leistete der Verein seine Beratungs- und Aufklärungsarbeit rein ehrenamtlich – und wurde beim Verteilen von Kondomen an Jugendliche der Gefährdung des Jugendschutzes bezichtigt.

1988 konnte die AIDS-Hilfe durch eine Anschubfinanzierung des Landes eine halbe Sozialarbeiter-Stelle einrichten und mit Evelin Tschan besetzen, die bis heute in diesem Job geblieben ist. Sie erinnert sich an harte Anfangszeiten in einem Einzugsgebiet, das damals den gesamten Bodensee-Raum umfasste und in dem die Kommunal- und Kreispolitik auf die Zuständigkeit der Gesundheitsämter verwies und ansonsten Prestige- und Tourismusinvestitionen den Vorrang vor sozialen Projekten gab.

Doch der Kampf gegen die Windmühlen der öffentlichen Hand war beileibe nicht das einzige Problem: In der heilen Welt gab es Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre schätzungsweise 500 HIV-Infizierte, darunter vor allem Drogengebraucher, die vom nahegelegenen Zürich mit seiner liberalen Drogenpolitik angezogen waren. „Das war eine ganze brutale Zeit“, sagt Evelin Tschan. „Ärzte und Kliniken haben die Behandlung verweigert und die HIV-Positiven manchmal einfach rausgeschmissen.“ In mühevoller Kleinarbeit habe die Aidshilfe schließlich Kontakt zu zwölf Ärzten und drei Kliniken aufgebaut, die zur Behandlung bereit waren. Es war schwierig, die Pflege gerade im ländlichen Raum zu organisieren, und so war das Team der 15 bis 20 ehrenamtlichen Betreuer enorm gefordert.

An dieser Situation geändert hat sich erst etwas durch Freddy Mercurys Tod, das Outing anderer Prominenter und den sogenannten Blut-AIDS-Skandal, durch den auch „Hinz und Kunz“ durch verseuchte Blutkonserven mit HIV infiziert wurden. „Das hat zu einem Umdenken in der Bevölkerung bis in die Provinz und bis in die öffentliche Hand geführt“, meint Evelin Tschan. „Wir sind damit aus dem Nischendasein herausgekommen und waren als Fachstelle anerkannt.“ Eine direkte Folge war die Aufstockung ihrer und die Einrichtung einer weiteren vollen Stelle für Geschäftsführung und MSM-Prävention, die von Ralf Doll bekleidet wird.

Der nächste Meilenstein war 1996 die Welt-Aids-Konferenz von Vancouver, die durch die Vorstellung der wirkungsvollen Protease-Hemmer zum Synonym für die bessere Behandelbarkeit von HIV wurde. Für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter der AIDS-Hilfe Konstanz begann damit eine Zeit der Fahrdienste in die nächste Immunambulanz nach München – 250 Kilometer an einem Tag hin und wieder zurück. Seit 1997 gibt es eine eigene HIV-Ambulanz am Klinikum Konstanz, mit deren Arzt die AIDS-Hilfe sehr eng zusammenarbeitet.

Heute ist ein Schwerpunkt der AIDS-Hilfe Konstanz die Migrantenarbeit. Rund ein Viertel der Ratsuchenden kommt aus afrikanischen Ländern, Osteuropa und Asien, für die nicht nur der Zugang zur medizinischen Versorgung, sondern oft auch anwaltliche Hilfe organisiert werden muss. Seit 2006 nimmt daneben die Schul- und Jugendprävention breiten Raum ein, für die mit Catrin Burth eine eigene Mitarbeiterin eingestellt wurde. Damit war „so ein bisserl“ eine Richtungsänderung vollzogen – weg von der Betreuungsarbeit, weil es vielen Klienten gut geht, hin zur Prävention.

Als Herausforderung für Gegenwart und Zukunft sieht Evelin Tschan zum einen eine ganzheitlichere STI-Beratung, in der HIV nur noch ein Aspekt ist; zum anderen wüscht sie sich eine stärkere Einbindung der Selbsthilfe, die in den letzten Jahren neu erwacht ist, aber andere Themen hat als früher: „Heute dreht sich vieles um Mütter mit Kindern, um die Partnerwahl oder Probleme am Arbeitsplatz. Viele führen zwar ein relativ normales Leben, aber die Öffentlichkeit hat noch das Bild vom alten Aids. Deshalb kann man im Büro über HIV immer noch nicht so sprechen wie zum Beispiel über Diabetes.“