Schleswig-Holstein sieht aufs Ganze
An einem sehr kalten Morgen Ende November steht ein Drogenberatungsbus vor dem schleswig-holsteinischen Landtag in Kiel. Die Abgeordneten gehören eher nicht zu dessen üblicher Klientel, sollen aber auf ein Problem aufmerksam gemacht und für einen Lösungsansatz gewonnen werden: In dem Flächenland mit nur fünf Aidshilfen sind die Wege zu HIV-, HCV- und STI-Test- und Beratungsangeboten viel zu weit und für viele auch zu teuer. Das Kompetenznetz Aids in Schleswig-Holstein will deshalb mit einem Bus-Projekt gezielt auf vulnerable Gruppen, wie z.B. Drogengebrauchende zukommen und so die Zahl der weißen Flecken in der Versorgungslandschaft verringern. Die Kolleg*innen im Nordwesten greifen damit das Ziel aus dem Zukunftspapier „Aufs Ganze sehen“ auf, sich für eine flächendeckende Versorgung für alle einzusetzen.
Wir sprechen mit Ute Krackow, der Geschäftsführerin des Kompetenznetzes, über die Anfänge und Fortschritte des Projekts.
Ute, wie ist denn die Idee für die mobile Beratung und Testung entstanden?
Eigentlich aus einer Kaffeelaune heraus. Als meine Stelle im Landesverband eingerichtet wurde, war klar, dass die flächendeckende Versorgung ein wesentlicher Teil meiner Aufgabe ist. Es geht also zum Beispiel darum, wie wir es schaffen, dass Drogengebrauchende hier ein möglichst gesundes Leben führen können. Viele gehen nicht zum Arzt, weil sie sich schämen, und viele haben Angst vor einem Test, weil sie denken: „Wenn ich jetzt auch noch HIV habe, kann ich mir gleich den Strick nehmen“. Bei einem Kaffee haben mein Kollege Lutz Ohrtmann und ich ein bisschen herumgesponnen, was man denn tun kann, wenn es einfach nicht mehr Aidshilfen und andere Stellen gibt, an die sich Drogengebrauchende vertrauensvoll wenden können. Der Gedanke mit dem Bus – also dass man eben zu ihnen fahren muss, wenn der Weg zu uns für sie zu weit ist – war erstmal eine Schnapsidee, ist aber bald immer konkreter geworden.
Wie sieht denn die Versorgungslandschaft für Drogengebrauchende in Schleswig-Holstein aus?
Es gibt im ganzen Land fünf Aidshilfen in Kiel, Lübeck, Neumünster, Heide und Nordfriesland und je eine niedrigschwellige Drogenhilfe-Einrichtung in Lübeck und Kiel.
Die Gesundheitsämter müssten gemäß Infektionsschutzgesetz eigentlich kostenlos anonyme HIV-Tests anbieten, aber in der Realität sieht es anders aus, in einigen Regionen gibt es z.B. keine kostenlosen HCV- und STI-Tests. Vielen Drogengebrauchenden fällt es auch schwer, Termine zu vereinbaren und zu den Öffnungszeiten ins Gesundheitsamt zu gehen. Die Suchthilfen haben HIV und HCV praktisch nicht auf dem Radar; sie konzentrieren sich eher auf legale Süchte. Ansonsten haben wir noch eine substituierende DIAKO Fachambulanz GmbH in Kiel.
Das klingt tatsächlich nach großen Hürden beim Zugang zu Test und Beratung, wenn man nicht gerade in einer der größeren Städte lebt.
Genau, und deshalb war das Zukunftspapier schon ein wichtiger Impulsgeber für uns mit seinem konkreten Ziel, dass Menschen nicht mehr als 100 Kilometer Weg zur diskriminierungsfreien ärztlichen Versorgung haben sollen.
Wie ging es denn nach der „Schnapsidee“ weiter?
Ich habe mit der für uns zuständigen Fachreferentin im Sozialministerium gesprochen, das inzwischen sehr offen für unsere Anliegen ist. Sie riet mir, ein Konzept zu schreiben, was ich gemacht habe. Sie fand das Konzept dann sehr überzeugend, wollte uns unterstützen und Kontakte vermitteln, vor allem auch zur Suchthilfe. Die brauchen wir quasi als Brücke: Wenn die Kolleg*innen ihre Besucher*innen gezielt auf unser Angebot ansprechen, fassen sie eher Vertrauen und sind für uns leichter zu erreichen. Gleichzeitig habe ich versucht, diverse Pharma-Unternehmen und die Deutsche Aids-Stiftung mit ins Boot zu holen. Bei der Stiftung könnten wir Unterstützung für die begleitende Evaluation beantragen.
Gab es Stolpersteine?
Ja, die Suchthilfe war anfangs sehr zurückhaltend und konnte mit unserer Idee eigentlich nichts anfangen. Die Pharmafirmen haben im Grunde sehr positiv reagiert; dennoch gab es noch etliche Fragen zu klären, wie z.B. was passieren soll, wenn Menschen positiv getestet werden. Es gab im September ein von einer Pharmafirma organisiertes Vernetzungstreffen mit der Drogenhilfe, der Landesstelle für Suchtfragen, den Fachambulanzen, der Aidshilfe Kiel und dem Sozialministerium. Als dort der renommierte HCV-Arzt Hinrichsen sagte, dass es doch schön wäre, wenn ein Testmobil herumfahren könnte, fanden alle diese Idee auf einmal ganz toll. Das hat dem Ganzen noch mal richtig Schub gegeben.
Wie sieht der Plan jetzt aus?
Zum Welt-Aids-Tag hat das Sozialministerium per Pressemitteilung verkündet, dass es das Busprojekt mit rund 100.000 € jährlich fördert. Davon können wir zwei Stellen – eine*n Sozialarbeiter*in und eine*n MFA oder Krankenpfleger*in – finanzieren. Falls jetzt Personen mitlesen, die Erfahrung im Suchthilfebereich haben, gerne Auto fahren und für ein innovatives Leuchtturmprojekt in Schleswig-Holstein arbeiten wollen: meldet euch!
Denkst du, es kann bald losgehen?
Wir hoffen sehr, dass wir im Herbst starten können. Wir haben uns für ein Wohnmobilmodell entschieden, das ausreichend Platz für Beratung und Testung bietet. Jetzt haben wir nur das Problem, dass es durch die Chip- und Containerkrise und den Krieg in der Ukraine zu massiven Lieferprobleme im Automobilbereich kommt. Falls es im Verband also jemanden gibt, der einen ganz heißen Draht zu Wohnmobilverkäufern hat…gerne bei uns melden!
Was wäre zu tun, um das Zukunftspapier stärker in den Fokus zu rücken?
Ich denke, es ist manchmal wichtig, sich hinzusetzen und sich den Ist/Soll-Zustand anzuschauen. Viele Aidshilfen haben Themen, mit denen sie sich vorrangig und ausschließlich beschäftigen. Dann macht es Sinn, mal abzugleichen, was es sonst noch an Themen und Aufgaben gibt, die für Aidshilfen und Menschen mit HIV relevant sind. Wenn es um Drogengebrauchende, Sexarbeitende, Geflüchtete oder Menschen ohne Papiere geht, ist in vielen Einrichtungen noch Luft nach oben. Da sagen viele, das können wir nicht auch noch leisten.
Da war für uns die Welt-Aidstags-Aktion 2021 ein Anschub, und es hat allen gut getan zu sehen: Es gelingt auch mal was.
Und was könnte die DAH konkret tun, damit alle mehr aufs Ganze sehen?
Vielleicht sollten innerverbandlich die verschiedenen Themen diskutiert werden, vielleicht im Format einer Rundreise oder eines anderen geeigneten Forums. Mein Gefühl ist: Es dürfte gerne eine konkrete Brücke von der Theorie zur Praxis geben. In kleinen Schritten könnte ein Ideenpool entstehen, und wir können uns gegenseitig Ideen weitergeben und Dinge abgucken. Wir brauchen lebendige Diskussionen in den Einrichtungen, den Ländern und im Verband und müssen uns fragen: Tun wir genug? Tun wir das Richtige? Sind alle dabei und bedacht, die es betrifft und braucht? Welche Kooperationen braucht es? In den großen Städten passiert da sicher schon einiges, in den Flächen-Bundesländern sieht es nochmal ein bisschen anders aus.
Liebe Ute, jetzt brauchen wir noch einen schönen Schlusssatz.
Ich war von Anfang an begeistert von dem Papier, ich finde, es ist extrem gut gelungen. Wir wissen alle nicht, wie die Zukunft aussieht; das Selbstverständliche gibt es nicht mehr. Das Zukunftspapier ist ein Leitfaden, ein Auftrag und die Vision, was wir als Verband miteinander erreichen möchten, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Diese Chance haben wir jetzt und sollten sie nutzen!