Leben mit HIV heute: Vorurteile schaden mehr als die Infektion
Deutsche Aidshilfe und Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft präsentieren Ergebnisse des Forschungsprojektes „positive stimmen 2.0“. Fazit: Ein gutes Leben mit HIV ist medizinisch möglich – der gesellschaftliche Umgang hinkt hinterher.
Die Lebensqualität von Menschen mit HIV wird heute vor allem durch Vorurteile und Diskriminierung eingeschränkt, nicht durch die HIV-Infektion selbst. Das ist die zentrale Erkenntnis der Studie „positive stimmen 2.0“. Die Deutsche Aidshilfe (DAH) und das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) veröffentlichen heute die wichtigsten Ergebnisse. Damit stehen knapp zehn Jahren nach der ersten Befragung dieser Art endlich wieder aktuelle aussagekräftige Daten zum Thema zur Verfügung.
„Menschen mit HIV können heute leben, lieben und arbeiten wie alle anderen. Schwerer als die gesundheitlichen Folgen der HIV-Infektion wiegen für viele die sozialen Folgen. Ein Großteil der Befragten unserer Studie ist im Alltag weiterhin mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Abwertung konfrontiert. Die gesellschaftliche Entwicklung ist langsamer als die medizinische“, fasst Matthias Kuske, Projektkoordinator bei der DAH, die Ergebnisse zusammen.
Für die deutsche Umsetzung des internationalen „People Living with HIV Stigma Index“ gaben knapp 500 Menschen mit HIV in Interviews nach einem standardisierten internationalen Leitfaden Auskunft zu ihrem Leben mit HIV. Fast 1.000 HIV-positive Menschen haben für die Studie zudem einen Online-Fragebogen über ihre Diskriminierungserfahrungen und die persönlichen Folgen ausgefüllt. In Fokusgruppen wurden die Ergebnisse vertieft.
Das Besondere: Auch die Interviewer*innen des Projekts waren HIV-positiv, die Befragung fand also „Peer-to-peer“ statt. Denn „positive stimmen 2.0“ ist Forschungs- und Communityprojekt zugleich. Es soll nicht nur Erkenntnisse über HIV-bezogene Diskriminierung bringen, sondern auch Menschen mit HIV stärken. Solche waren im gesamten Projektverlauf einbezogen. Dieser Ansatz der partizipativen Forschung hat sich erneut bewährt.
Und Interviewer Andreas, 52, aus Münster, erzählt: „Ich glaube, ich muss mein Leben neu einteilen in ‚Vor den Interviews‘ und ‚Nach den Interviews‘. Durch dieses Projekt habe ich mich in einem halben Jahr nahezu komplett geoutet. Das hat mir so viel Schwung gegeben!“
Die Ergebnisse
Die meisten Menschen in Deutschland leben gut mit ihrer HIV-Infektion – in der Stichprobe der Online-Befragung bejahen 90% diese Aussage. Dank der guten Therapiemöglichkeiten fühlen sich drei Viertel der Befragten gesundheitlich nicht oder nur wenig eingeschränkt. 95% berichten jedoch von mindestens einer diskriminierenden Erfahrung in den letzten 12 Monaten aufgrund von HIV. 52 Prozent geben an, durch Vorurteile bezüglich der HIV-Infektion in ihrem Leben beeinträchtigt zu sein.
Besonders häufig kommt Diskriminierung nach wie vor im Gesundheitswesen vor. 56% der online Befragten machten in den letzten 12 Monaten mindestens eine negative Erfahrung. 16% berichten, dass ihnen mindestens einmal eine zahnärztliche Versorgung verweigert wurde. 8% passierte dies bei allgemeinen Gesundheitsleistungen. Eine Konsequenz: Ein Viertel der Befragten legt seinen HIV-Status nicht mehr immer offen.
„Menschen mit HIV anders zu behandeln als andere ist völlig unnötig – und ganz klar diskriminierend“, stellt Projektmanager Matthias Kuske fest. „Die üblichen Hygienemaßnahmen reichen völlig aus. Unter Therapie ist HIV ohnehin nicht mehr übertragbar.“
Eine weitere zentrale Erkenntnis aus dem Projekt ist, dass Menschen mit HIV oft zugleich aufgrund anderer Identitätsmerkmale Diskriminierung erfahren. So berichtet jeder zweite schwule oder bisexuelle Mann in der Studie von Erfahrungen mit Homophobie und 62% der befragten Schwarzen Menschen und People of Color von Rassismus.
Folgen der Stigmatisierung
Diskriminierung und Stigmatisierung haben gravierende Folgen für das Wohlbefinden und den Alltag von Menschen mit HIV. 70% der Teilnehmer*innen der Peer-to-Peer-Befragung empfinden es als schwierig, anderen von ihrer HIV-Infektion zu erzählen. Drei Viertel verheimlichen sie „in vielen Lebensbereichen“. So sprechen beispielsweise im Arbeitsleben 44% der Befragten nie offen über HIV.
Rund ein Viertel der Befragten jedoch hat die Stigmatisierung von außen verinnerlicht: Den Aussagen „Ich schäme mich, dass ich HIV-positiv bin“ und „Ich fühle mich schuldig, dass ich HIV-positiv bin“ stimmen jeweils rund 25% der Befragten zu. Rund ein Drittel der Befragten hat Angst, jemanden beim Sex anzustecken – obwohl eine Übertragung unter Therapie überhaupt nicht mehr möglich ist und trotz eines erklärtermaßen hohen Vertrauens in diese Schutzwirkung.
Positiv zu vermerken ist dabei: Für 46% der Befragten ist es mit der Zeit einfacher geworden, ihren HIV-Status offenzulegen. Helfen kann dabei der Kontakt zu anderen Menschen mit HIV.
Forderungen und Handlungsempfehlungen
Das Projekt „positiven stimmen 2.0“ hat in einem partizipativen Prozess sieben Forderungen und 17 konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt. Sie zielen zum Beispiel auf eine sachgerechte Darstellung des Lebens mit HIV in den Medien und die Wahrung des Daten- und Persönlichkeitsschutzes in allen Sektoren des Gesundheitswesens.
„Unsere Untersuchung zeigt klar, dass HIV in unserer Gesellschaft weiterhin mit einem Stigma verbunden ist. Wir brauchen weiterhin Aufklärung der Bevölkerung zu den positiven Folgen der HIV-Therapie sowie eine mediale Verbreitung vorurteilsfreier Erzählungen vom Leben mit HIV“, betont Dr. Janine Dieckmann, wissenschaftliche Projektleiterin beim IDZ.
Veröffentlichung der Ergebnisse
Die wichtigsten Ergebnisse und die Forderungen der positiven stimmen 2.0 werden heute anlässlich eines Fachtages für die HIV-Community als Broschüre veröffentlicht. Ende September erscheint der wissenschaftliche Forschungsbericht.
Weitere Informationen und Download der Broschüre: www.positive-stimmen.de/ergebnisse
Pressekontakt:
Deutsche Aidshilfe: Holger Wicht, Pressesprecher, presse@dah.aidshilfe.de, Tel. (030) 69 00 87-16
Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft: Dr. Janine Dieckmann: janine.dieckmann@idz-jena.de, Tel.: (03641) 2719401, www.idz-jena.de