Testen und sofort behandeln?

Die Welt-Aids-Konferenz diskutiert über „Test & Treat“: Kann die sofortige Behandlung jedes HIV-Positiven die HIV-Epidemie in Afrika stoppen?

„Therapie ist Prävention!“ Diesen Satz trägt Julio Montaner, Präsident der Internationalen Aids-Gesellschaft, auf der Welt-Aids-Konferenz wie ein Mantra vor. Auf dem Kongress in Wien diskutieren Medizin-Experten heftig über eine höchst umstrittene Frage: Kann die konsequente Therapie jeder HIV-Infektion die Aids-Epidemie zum Stillstand bringen? Kann sie die Ausbreitung der Immunschwächekrankheit sogar beenden?

Die Erfolge der antiretroviralen Therapie sind in der Tat gewaltig. Die Medikamente dienen schon lange nicht mehr allein der Verlängerung des Lebens von HIV-Positiven. Sie verhindern auch die Übertragung des Virus von der Schwangeren auf das Kind. Und als „Post-Expositions-Prophylaxe“, gewissermaßen als nachträgliche Vorbeugung, schützen sie Ärzte und Krankenpflegekräfte nach einer Stich-oder Schnittverletzung vor einer Ansteckung mit HIV.

Aus zahlreichen Studien weiß man auch: Eine HIV-Übertragung von HIV-Positiven auf HIV-Negative bei sexuellen Kontakten ohne Kondom ist unwahrscheinlich, wenn die Viruslast des HIV-positiven Partners seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze ist, die antiretroviralen Medikamente konsequent eingenommen werden und bei den Sexualpartnern keine Schleimhautdefekte z. B. als Folge sexuell übertragbarer Infektionen vorliegen. Die Deutsche AIDS-Hilfe hat diese Erkenntnisse in ihre Präventionsarbeit einfließen lassen und klärt die Bevölkerung entsprechend auf.

Westeuropa: mehr Infektionen trotz Therapie

Bei einer so hohen Wirkung der Anti-HIV-Medikamente liegt der Gedanke nahe, die Therapie gezielt einzusetzen, um die HIV-Epidemie in den Griff zu bekommen. Schließlich wird die Welt noch lange auf andere Präventionsmethoden wie zum Beispiel Mikrobizide warten müssen – ganz zu schweigen von einer Impfung gegen HIV.

Den Aufschlag dazu, sich die Therapie im Kampf gegen die Epidemie zunutze zu machen, machte Ende 2008 eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um Reuben Granich. Ihre auf eine Modellrechnung gestützte Behauptung: In Südafrika könne man die HIV-Epidemie bis zum Jahr 2050 praktisch zum Verschwinden bringen. Allerdings hieße das, die erwachsene Bevölkerung jährlich einmal komplett durchzutesten und sofort zu behandeln.

Diese radikalen Vorschläge wecken eine Reihe fachlicher und ethischer Bedenken. Das Modell hat jedenfalls weitere Modellrechnungen nach sich gezogen, und es wird heftig über die von Granich postulierte Strategie „Test & Treat“ („Testen und behandeln“) diskutiert. Bernard Hirschel von der Universität Genf und Julio Montaner betonen, mit der Einführung der antiretroviralen Therapie seien die Neuinfektionen in verschiedenen Regionen gesunken.

Kritiker verweisen auf Gegenbeispiele. Eines nennt DAH-Medizinreferent Armin Schafberger: „In Westeuropa sind nach der Jahrtausendwende die Infektionszahlen bei schwulen Männern gestiegen, obwohl die meisten der positiv Getesteten eine Therapie machen. Entscheidend für den Verlauf der Epidemie sind wahrscheinlich diejenigen, die noch keine Therapie einnehmen. Und dazu gehören natürlich auch Personen, die noch nichts von ihrer Infektion wissen.“

Südafrika: Testlauf für „Test & Treat“

Der Kongress in Wien hat die Zahl der Modellrechnungen und epidemiologischen Spekulationen erhöht. Neue, harte Daten gibt es aber nicht. Bernard Hirschel will daher mit der französischen Behörde für Aids-Forschung (ANRS) und afrikanischen Partnern eine Studie in Südafrika durchführen. In der von der HIV-Epidemie am stärksten betroffenen Provinz KwaZulu-Natal sollen jeweils 15 Regionen miteinander verglichen werden.

In den „15 Interventions-Regionen“ wird nach einem positiven HIV-Test und mit Zustimmung des Patienten sofort mit der Behandlung begonnen. In den 15 Kontrollregionen wird gemäß der gültigen WHO-Therapieleitlinie verfahren – also erst dann mit einer Therapie begonnen, wenn die Schädigung des Immunsystems dies erforderlich macht. Richtschnur ist dabei die Zahl der Helferzellen, die im Verlauf einer HIV-Infektion abnimmt. Sie soll nach der Empfehlung der WHO nicht unter den Wert von 350 Zellen pro Mikroliter Blutserum sinken. Im Jahr 2015 sollen dann die Zahlen der Neuinfektionen in den Regionen miteinander verglichen werden.

Belastbare Daten, so Kritiker, würden auch durch diese Studie nicht generiert. Denn neben der „Test-und-Behandlungs-Strategie“ gibt es noch viele weitere Einflussfaktoren, durch die sich die Infektionszahlen in den Regionen unterscheiden könnten: die Migration von Bevölkerungsgruppen von der einen in die andere Region, unterschiedlicher Kondomgebrauch, unterschiedliches Sexualverhalten und vieles mehr. Deshalb, so Hirschel, wolle man nicht eine Region mit einer anderen, sondern alle 15 Regionen miteinander vergleichen.

Nicht auf präventive Wirkung des HIV-Tests verzichten

Eines ist jedoch schon klar: Die Studienergebnisse aus Südafrika können nur eingeschränkt auf Westeuropa übertragen werden. Hier verläuft die HIV-Epidemie völlig anders, betrifft nur wenige Bevölkerungsgruppen. In Deutschland vor allem die schwulen Männer. Bei der letzten großen Testkampagne der DAH für diese Zielgruppe waren 97 Prozent der Getesteten HIV-negativ.

„Damit das weiter so bleibt, wird jeder Getestete zu Safer Sex und der Reduktion von Risiken beraten“, erklärt Schafberger einen der wichtigsten Präventionsgrundsätze: Die Deutsche AIDS-Hilfe bietet den HIV-Test nur in Verbindung mit einem Beratungsgespräch an. „Wollte man HIV-Tests für die gesamte Bevölkerung einführen, müsste man auf die umfangreiche Beratung verzichten – und damit auf die präventive Wirkung des Testangebots.“
In den „Test and Treat“-Regionen solle niemand dazu gezwungen werden, den Test zu machen oder mit einer Therapie zu beginnen. Trotzdem sei es ethisch nicht tragbar, Menschen eine Therapie nahezulegen, obwohl sie noch gar keine Therapie benötigten.

Diese Kritik, so Schafberger, könnte sich aber in wenigen Jahren in Luft auflösen. Denn der  Behandlungsbeginn bei HIV-Positiven wird sich wahrscheinlich auch in der Bundesrepublik immer weiter nach vorne verschieben. Denn HIV richtet im Körper auch im Frühstadium schon Schädigungen an, die man so vermeiden könne. „Wenn die Medikamente weiterhin besser werden und weniger Nebenwirkungen haben, wird die Abwägung ,Behandeln oder noch nicht‘ immer öfter zugunsten der Behandlung ausfallen“, vermutet Schafberger.

In den USA sind die ärztlichen Leitlinien schon fast bei der sofortigen Behandlung angekommen. Die europäischen Leitlinien sind in ihrer Empfehlung zum HIV-Therapiestart derzeit zurückhaltender, zumal noch keine belastbaren Daten darüber vorliegen, wann nun tatsächlich der beste Zeitpunkt für den Behandlungsbeginn ist.