Rückblick auf die Mitgliederversammlung in Neumünster
Am 15. und 16. Oktober fand die diesjährige Mitgliederversammlung in Neumünster statt. Die wichtigsten Ergebnisse sind im nachfolgenden Kurzbericht zusammengefasst; das ausführliche Protokoll wird im Dezember an die Mitglieder verschickt.
Neue Ehrenmitglieder
Die MV hat einstimmig beschlossen, Sigrun Haagen und Matthias Hinz die Ehrenmitgliedschaft anzutragen. Sigrun Haagen wird damit als Mitbegründerin des Netzwerks der Angehörigen und als langjähriges Mitglied im Delegiertenrat und der PoBe-Vorbereitungsgruppe geehrt, Matthias Hinz als Selbsthilfe-Aktivist, der sich oft über die eigenen Grenzen hinaus gerade für die jungen Positiven eingesetzt hat und sich immer wieder kritisch zu Wort meldet, wenn er die Rechte von Menschen mit HIV gefährdet sieht. Die Ehrenmitgliedschaft an beide wird im Rahmen des Welt-Aids-Tags-Empfangs am 4. November verliehen.
Neuer Vorstand
Tino Henn, Winfried Holz, Carsten Schatz und Sylvia Urban aus dem amtierenden Vorstand wurden in ihrem Amt bestätigt; neu gewählt wurde Manuel Izdebski, Geschäftsführer der AIDS-Hilfe im Kreis Unna. Der neue Vorstand wird sich Mitte November konstituieren.
Mit stehenden Ovationen verabschiedete sich die MV von Hansmartin Schön, der sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zur Wahl stellte.
Neue Mitglieder im Delegiertenrat
Die Stimmgruppen werden in der neuen Amtsperiode des Delegiertenrats (DR) durch folgende Vertreter/innen repräsentiert:
Stimmgruppe 1:
- Siegfried Böse-Bloching (AIDS-Hilfe Bodensee-Oberschwaben)
- Madlen Nagel (AIDS-Hilfe Weimar & Ostthüringen)
Stimmgruppe 2:
- Rolf Ringeler (AIDS-Hilfe Duisburg Kreis Wesel)
- Lu Witzleben (AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen)
Stimmgruppe 3:
- Ulf Hentschke-Kristal (AIDS-Hilfe Bielefeld)
- Michael Tappe (Münchner Aids-Hilfe)
Die Wahlen der Landesdelegierten haben noch nicht in allen Bundesländern stattgefunden; die Mandatsprüfkommission hat in der MV die folgenden Wahlen als ordnungsgemäß bestätigt:
Baden-Württemberg:
- Klaus Koch
Berlin:
- Stephan Jäkel
Mecklenburg-Vorpommern:
- Tom Scheel
Rheinland-Pfalz:
- Uschi Weiland
Schleswig-Holstein:
- Bernd Perthun
Thüringen:
- Jens Marcus Scholz
Als Einzelpersonen wählte die MV in den Delegiertenrat:
- Rainer Schilling
- Gaby Wirz
Finanzen
Die MV folgte einstimmig der Empfehlung der Kassenprüfer Ulf Hentschke-Kristal und Tom Scheel, den Vorstand für das Jahr 2010 zu entlasten. Ebenso einstimmig beschloss sie nach der Stellungnahme der Haushaltskommission durch Thomas Wilde den Haushaltsentwurf für 2012. Mit großer Mehrheit stimmten die Delegierten der Beschlussvorlage des Vorstands zur mittelfristigen Finanzplanung zu, die vorsieht, den Vermögensverbrauch bis Ende 2012 auf jährlich 170.000 € (ohne Abschreibung) zu begrenzen und die verbleibenden Vermögensbeträge aus Erbschaften in Höhe von mindestens 2.000.000 € weiterhin konservativ anzulegen. Die MV ergänzte den Beschluss um die Maßgabe, dass das Sparziel weiterhin ein ausgeglichener Haushalt bleiben muss.
Zum Hintergrund: Nach dem Beschluss der MV von 2008 dürfen bis Ende 2012 maximal 2,3 Mio Euro aus dem Vermögen für eingegangene Verpflichtungen und neue Projekte verwendet werden. Bei einer Fortschreibung der jetzigen Ausgaben werden bis Ende 2012 nur 1,34 Mio € ausgegeben sein, wobei allerdings das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts nicht erreicht werden konnte. Um die nicht zuletzt durch Beschluss der MV aufgebauten Arbeitsbereiche zu erhalten und sinnvoll fortzuführen, ist nach Berechnung des Vorstands bei gleichbleibenden Einnahmen ein Rückgriff auf das Vermögen in Höhe von 170.000 € pro Jahr erforderlich.
Ziel bleibt weiterhin eine Erhöhung der Einnahmenseite vor allem durch das Fundraising-Projekt pluzz, das aufgrund der fehlenden Kapazitäten in der Bundesgeschäftsstelle jetzt von der Agentur „Zum goldenen Hirschen“ in enger Kooperation mit der DAH umgesetzt wird. In der Agentur, die den Erlös zu 100 Prozent an die DAH abführen wird, ist Jan Oesterlin zuständig für das Projekt. Er stellte in der MV die Planung nach dem Grundsatz „Branding für eine gute Sache, die sich durch Einzigartigkeit und Transparenz auszeichnet“ vor und stand für Fragen zur Verfügung
Zukunft von Aidshilfe
Zur Diskussion standen in dieser MV die Thesen zu Selbsthilfe/Interessenvertretung und zum HIV-Test, jeweils eingeleitet durch kurze Impulse zu unterschiedlichen Aspekten dieser Spannungsfelder. Bernd Aretz wandte sich gegen die im Verband geäußerte Forderung, eine Schlüsselstelle wie die des HIV-Referenten könne nur mit einem schwulen Mann besetzt werden, um der epidemiologischen Realität Rechnung zu tragen. Aus seiner Sicht ist die Bereitschaft, sich gegen die Diskriminierung und für bessere Lebensbedingungen unterschiedlicher Betroffenengruppen einzusetzen, nicht durch das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung bestimmt, sondern durch Erfahrungen in der Selbsthilfe von Menschen, die wegen ihres Andersseins als Schwule, Migrant(inn)en oder „Krüppel“ ausgegrenzt und behindert werden; außerdem spiegele die Epidemiologie nicht zwangsläufig die tatsächlichen Problemlagen wider, die heute eher durch die Vereinzelung der heterosexuell Infizierten bestimmt seien.
Axel Hentschel sieht in der Beteiligung von Selbsthilfe auf allen Ebenen die besondere Qualität von Aidshilfe, die sie gegenüber anderen Organisationen ausmache – auch und gerade in der Wut, die Menschen wie der frühere Drogenreferent Werner Herrmann mitbrachten, „denn nur durch Unzufriedenheit kommt Veränderung“. Diese Qualität gelte es gegenüber der Entwicklung zu bewahren, fachlich versierte Sozialarbeiter ohne Geschichtsbewusstsein „einzukaufen“ und ihnen die Fundamente von Aidshilfe-Arbeit nicht zu vermitteln. Das führe z.B. dazu, dass Leiter/innen von Wohnprojekten mit professioneller Distanz Klient(inn)en in offensichtlichen Notsituationen nicht aufnehmen, weil sie Probleme in der Abrechenbarkeit befürchten. Er plädiert dafür, die Selbsthilfe mit ihrer Unzufriedenheit, die in den Aufbau immer neuer Strukturen münde, besser in den Verband zu integrieren.
In der Diskussion im Plenum zeigt sich, dass „die Selbsthilfe“ kein homogenes Gebilde ist und die beiden Impulse ein weites Feld geöffnet haben, das sich nicht in ein einfaches Fazit kanalisieren lässt. In Bezug auf die Personalpolitik wird der Trend bestätigt, Sozialarbeiter/innen „von der Stange“ einzustellen, von denen einige zum Beginn der Aidskrise noch gar nicht geboren waren; zugleich werden Kolleg(inn)en beschäftigt, die andere Lebensbrüche als die der HIV-Infektion durchgemacht haben und deren Erfahrungen in der Arbeit als bereichernd empfunden werden; und es gibt die Erkenntnis, dass fehlende Betroffenkompetenz kein Manko sein muss, wenn die professionellen Fachkräfte Einfühlungsvermögen und Lebensweisenakzeptanz mitbringen. Ein anderer Diskussionsstrang bezog sich auf das Stichwort der Unzufriedenheit: Einige Delegierte stellten fest, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die Selbsthilfe ihren Protest auf der Straße kundtat; die Bewegung sei längst auf dem Rückzug, aus schwulen Vorständen würden rein heterosexuell besetzte, und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Arbeitszeit fließe in Bemühungen, die Selbsthilfe zu aktivieren. Andere Teilnehmer/innen relativierten diese Entwicklung; aus ihrer Sicht hängt es immer von den jeweils agierenden Menschen ab, in welchem Maß sich die Selbsthilfe Einfluss verschafft und die Arbeit mitgestaltet. Auch für Heike Gronski, die neue HIV-Referentin der DAH, ist die Selbsthilfe keineswegs tot: Sie trifft gerade bei jungen, aber auch bei nicht mehr ganz jungen Menschen mit HIV auf das Bedürfnis, aktiv zu werden, sich zu vernetzen und sich Räume zu erobern.
Zur HIV-Test-These stellten zunächst Michael Tappe (Münchner Aids-Hilfe) und Marc Grenz vom Hamburger Schwulen Infoladen Hein & Fiete ihre Positionen gegeneinander. Beide Einrichtungen bieten HIV- und andere STI-Tests nach dem Prinzip der informierten Zustimmung und auf Basis der Teststandards an. Die Münchner Aids-Hilfe geht unter der Bedingung, dass die Standards erfüllt sind und z.B. Warte- und Beratungsräume voneinander getrennt sind, mit dem Schnelltest auch in die Szene (z.B. in ein schwul-lesbisches Jugendzentrum und in Drogenkontaktläden), um Menschen zu erreichen, die den Gang in Einrichtungen scheuen und den Aidshilfe-Mitarbeiter(inne)n vertrauen. Hein & Fiete leistet mit der „Safety Crew“ zwar Präventionsarbeit in Saunen, auf Parkplätzen etc., stellt den - klassischen - Test aber nur im Infoladen bereit, weil auch mit diesem klar begrenzten Angebot viele erreicht werden könnten und es auch Räume geben müsse, „in denen man nur schwul sein kann“. Im Übrigen müssten Menschen nach einem reaktiven Schnelltest-Ergebnis in der Szene ohnehin zum Bestätigungstest in eine Einrichtung kommen.
In einem dritten Impuls stellte Regina Moszden von Fixpunkt e.V. in Berlin das Modellprojekt „test it!“ vor. Es bietet gerade intravenös Drogengebrauchenden, die besonders von HIV- und Hepatitisinfektionen bedroht sind, Testangebote aber nicht zuletzt aus Scheu vor Gesundheitsämtern oder Arztpraxen kaum wahrnehmen, die Möglichkeit, in den Kontaktstellen einen Schnelltest auf HIV und/oder Hepatitis C zu machen.
Im Plenum bleiben die Standpunkte zum Test in der Szene konträr: Während ein Teil das Testangebot als eine Beeinflussung der freien Entscheidung versteht und befürchtet, dass Menschen aus einer Laune des Abends und möglicherweise aus Sympathie zum Berater einem Test zustimmen, dessen Ergebnis sich im Falle des Falles nicht mehr rückgängig machen lässt, sehen andere darin eine sinnvolle Maßnahme der Gesundheitsvorsorge, die dazu beitragen kann, dass es z.B. weniger late presenters gibt. Der provokanten Anmerkung, Tests in der Szene seien schon fast als das Aufspüren von Infektionsquellen zu bewerten und gerade in Settings wie auf Parkplätzen ethisch nicht vertretbar, steht die Forderung nach einer weniger ideologischen Betrachtung in dem Sinn entgegen, dass das Angebot für Menschen, die den Weg zum Test sonst nicht finden würden, gut und passend sein kann.
Die Diskussion zu den Thesen wird im Verband auf verschiedenen Ebenen fortgesetzt, z.B. im Delegiertenrat, auf Fachtagungen in den Ländern, im Rahmen der Präventionskonferenz und in einzelnen Mitgliedsorganisationen. Das Angebot der Bundesgeschäftsstelle, den Diskussionsprozess vor Ort zu unterstützen, besteht weiterhin. Auf der MV im nächsten Jahr sollen die Thesen verabschiedet werden.
Web-Projekt Lokale Aidshilfen
Nach einer Umfrage im Verband, die ergeben hatte, dass rund die Hälfte aller MOen einen neuen Internetauftritt in Angriff nehmen wollte und an einem gemeinsamen Design und Konzept interessiert waren, wurden die Niedersächsische AIDS-Hilfe (NAH) sowie die AIDS-Hilfen Frankfurt, Unna und Weimar & Ostthüringen für eine Entwicklungs- und Erprobungsphase ausgewählt. In der MV stellten Imke Schmieta und Manuel Izdebski (AIDS-Hilfe Unna) das Konzept vor, in dem die MOen im Baukastenprinzip nach individuellen Bedürfnissen die für sie wichtigen Inhalte der DAH-Webseite nutzen und eigene Angebote ergänzen und leicht einpflegen können. Die DAH beteiligt sich noch in den Jahren 2012 und 2013 an den Supportkosten; den MOen würden – wenn mindestens 50 beteiligt sind – neben den einmaligen Einrichtungskosten monatliche Kosten in Höhe von 40 Euro für Wartung und Service entstehen. Die Webseiten der vier Pilot-Aidshilfen gehen voraussichtlich bis zum Jahresende online; danach ist die Bewerbung für eine Beteiligung möglich. Imke Schmieta und Manuel Izdebski empfehlen das Projekt als „sehr schöne Service-Leistung“.
Im Plenum stößt das Projekt auf großes Interesse; die GF wird den Hinweis weitergeben, dass bei der Farbgebung auf die Barrierefreiheit für Menschen mit Sehbehinderungen geachtet werden sollte.
Anträge auf Satzungsänderung
Die Mitgliederversammlung stimmte mit zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung dem Antrag des Delegiertenrats auf eine Satzungsänderung zu, durch die die Kriterien zur Aufnahme neuer ordentlicher Mitglieder auch zur Grundlage des Fortbestehens einer Mitgliedschaft werden. Einstimmig wurde der Antrag des Vorstands angenommen, die Satzung formell an aktuelle gemeinnützigkeitsrechtliche Vorgaben anzupassen.
Sonstige Anträge
Der Antrag der Niedersächsischen AIDS-Hilfe, die MV künftig ausschließlich in Berlin zu veranstalten, um die Ressourcen der Teilnehmer/innen zu schonen und eine bundespolitische Präsenz zu gewährleisten, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Gegen den Antrag wurde eingewendet, dass gerade kleinere Aidshilfen jenseits der Metropolen vom Medieninteresse an der MV in ihrem Ort profitieren könnten und der Verband einen „mit Geld nicht zu bezahlenden“ Gewinn durch den Einblick in die lokalen Begebenheiten erfahre; nicht zuletzt würden die Ressourcen der MOen im Süden durch einen solchen Beschluss keineswegs geschont. Der Vorschlag des Vorstands ist es, die MV innerhalb der nächsten drei Jahre einmal in Berlin durchzuführen.
Rahmenprogramm
Die MV war in ein von der AIDS-Hilfe Neumünster sehr liebevoll gestaltetes Rahmenprogramm eingebettet, das mit ihren offenen Räumen am Freitag begann; am Abend empfing Stadtpräsident Friedrich-Wilhelm Strohdiek die bereits angereisten Delegierten im Alten Ratsaal. Spätestens dort wurde ihnen bewusst, dass ihr Weg sie in den hohen Norden geführt hatte: Die der AIDS-Hilfe sehr verbundene Kleinkünstlerin Inge Rohwer trug plattdeutsche Dönnches vor, Geschichten aus dem wahren Leben, wie sie sich in dieser Sprache eben nur in dieser Gegend abspielen. Zwei Führungen am Samstagvormittag gaben die Gelegenheit, die alte Tuchmacher- und Lederstadt näher kennenzulernen. Zur öffentlichen Gedenkfeier am Samstagabend erinnerte ein Pastor an die an den Folgen von Aids Verstorbenen und lud die Anwesenden ein, an einem „Lebensbaum“ Lichter zu entzünden. Auf der Harfe musikalisch begleitet wurde er von Jörn-Uwe Wulf, der die Delegierten später am Abend mit ungewöhnlichen Märchen unterhielt.
Für das alles gilt unser herzlicher Dank den Kolleginnen und Kollegen in Neumünster, allen voran Torsten Kniep, aber auch allen, die im Hintergrund gewirkt und dazu beigetragen haben, dass sich alle in Neumünster sehr willkommen gefühlt haben.