HIV in Osteuropa: Nur Menschenrechte und eine starke Zivilgesellschaft können die Epidemie bremsen
Online-Konferenz: Fachleute mahnen Stärkung betroffener Gruppen sowie Kooperation zwischen Regierungen und nicht-staatlichen Organisationen an. Deutschland muss Leuchtturmprojekte unterstützen.
Osteuropa und Zentralasien brauchen einen Kurswechsel in ihrer HIV-Politik, um die sich weiterhin ausweitende Epidemie in der Region unter Kontrolle zu bringen. Wie kann das gelingen? Mit dieser Frage beschäftigt sich heute ein Online-Konferenz unter dem Titel „Ist HIV-Arbeit Menschenrechtsarbeit?“ von Aids Action Europe, dem Aktionsbündnis gegen Aids, Brot für die Welt und der Deutschen Aidshilfe. Fachleute aus der Region beraten über Wege zu wirksamen Präventionsmaßnahmen und Versorgung.
In Osteuropa und Zentralasien steigen die HIV-Infektionszahlen seit Jahren – gegen den weltweiten Trend. Der Grund liegt in einer verhängnisvollen Mischung aus Stigmatisierung und Verfolgung der am stärksten betroffenen Gruppen sowie einer zunehmenden Schwächung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die bei Maßnahmen gegen HIV immer eine Schlüsselrolle spielen. Die Corona-Epidemie verschärft die Situation nun zusätzlich.
Vernachlässigte Gruppen mit hohem Risiko
Während in westlichen Ländern HIV-Arbeit in der Regel auch als Menschenrechtsarbeit betrachtet wird und auf individuelle Rechte fokussiert, beschränkt sich Prävention in den Ländern Osteuropas allzu oft auf kollektive Gesundheitsvorsorge. Dabei betrifft HIV in der Region zu 99 Prozent verfolgte und marginalisierte Gruppen: Menschen, die intravenös Drogen konsumieren, Männer, die Sex mit Männern haben, Sexarbeiter_innen, Menschen in Haft sowie Arbeitsmigrant_innen und die jeweiligen Partner_innen.
Alle Erfahrungen aus fast vier Jahrzehnten HIV-Arbeit zeigen jedoch: Nachhaltige Erfolge kann nur erzielen, wer die Menschenrechte dieser Gruppen ernst nimmt, ihrer Diskriminierung entgegentritt und ihnen maßgeschneiderte Angebote zur Prävention, beim HIV-Test sowie zur medizinischen Versorgung macht. Es wird höchste Zeit, dieses Potenzial auch in Osteuropa auszuschöpfen!
Ansprache durch NGOs ist essenziell
Dazu sagt Michel Kazatchkine, UN-Beauftragter für HIV/Aids in Osteuropa und Zentralasien, der einen Eröffnungsvortrag halten wird:
„In Zeiten der Covid-19-Pandemie wird uns klar, dass wir zwar alle betroffen sein können, einige jedoch ein viel höheres Gesundheitsrisiko haben als andere. Nicht-Regierungs- und Community-Organisationen sind am besten in der Lage, den Zugang zu HIV-bezogenen Angeboten für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten. Zivilgesellschaftlichen Organisationen können auch die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die die Epidemie in der Region vorantreiben, aufdecken und bekämpfen".
Einfluss der Zivilgesellschaft wird missachtet
Nicht zuletzt die guten Erfahrungen in Deutschland zeigen: Die Kooperation von Regierungen mit Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) ist bei Maßnahmen gegen HIV einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren. Gerade in Osteuropa haben sie einen viel besseren Zugang zu den besonders betroffenen Gruppen. Doch oftmals werden sie in ihrer Arbeit behindert, ihr Spielraum und ihre Finanzierung eingeschränkt.
Dazu sagt Susanne Müller, Referentin für Europa bei Brot für die Welt:
„Die Regierungen vieler Länder Osteuropas lassen die Chance der Kooperation ungenutzt. Anstatt sich mit ihnen zu verbünden, werden die nicht-staatlichen Organisationen als ,Feinde‘ und ,Agenten des Auslands‘ stigmatisiert. Die am stärksten von HIV betroffenen Menschen verlieren so ihre Stimme. Die zunehmende Einschränkung der Zivilgesellschaft entwickelt sich zu einem weiteren treibenden Faktor der HIV-Epidemie in der Region.“
Finanzierungseinbußen gefährden Versorgung durch NGOs
Dabei wird die Zivilgesellschaft zurzeit auch durch Umstellungen bei der Finanzierung der Maßnahmen gegen HIV geschwächt. Viele Länder Osteuropas befinden sich in einem Übergangsprozess: International finanzierte Unterstützung, wie beispielsweise durch den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM), kann nicht mehr geleistet werden, weil die Vergabebedingungen für den fachgerechten Einsatz der Gelder nicht gegeben sind oder weil die Länder selbst über genug Finanzkraft verfügen. Die Länder müssen für ihre Maßnahmen jetzt selbstaufkommen – und richten sich dabei nach ihren eigenen Kriterien. NGOs erhalten oft keine Unterstützung mehr.
Die Folgen sind fatal, wie Sylvia Urban, Vorstand der Deutschen Aidshilfe und des Aktionsbündnis gegen Aids, erläutert:
„Die Veränderungen bei der Finanzierung lassen faktisch Versorgungssysteme zusammenbrechen. Zivilgesellschaftliche Organisationen können Präventionsleistungen, Zugang zu Informationen und communitynahe Programme nicht mehr aufrechterhalten. Menschen mit HIV oder Tuberkulose und die besonders stark betroffenen Gruppen werden alleine gelassen. In der Folge steigt die Zahl der Neuinfektionen, bisherige Erfolge werden zunichtegemacht.“
Vorbildliche Politik stärken
Dieser Melange von politischer Blockade von Prävention und Misstrauen in die Zivilgesellschaft einerseits, Veränderungen bei der Finanzierung andererseits ist schwer beizukommen. Helfen können fachlicher Austausch und politischer Druck auf internationaler Ebene sowie bilateral umgesetzte Leuchtturmprojekte in der Region, die zeigen, dass menschenrechtsbasierte HIV-Maßnahmen auch epidemiologisch erfolgreicher sind.
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