Expert_innen fordern Neuanfang der Drogenpolitik – auch für Tabak und Alkohol

Der Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik (akzept e.V.) und die Deutsche Aidshilfe haben den 6. Alternativen Drogen- und Suchtbericht (ADSB) vorgelegt. Sie fordern darin eine neue nationale Drogenstrategie auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse, der Erfahrungen aus der Praxis und der Menschenrechte.

Jedes Jahr legt die oder der Drogenbeauftragte der Bundesregierung den Drogen- und Suchtbericht vor, zuletzt 2018. Darin fehlen allerdings wichtige Themen, zum Beispiel die chemische Analyse sogenannter Partydrogen, um gesundheitliche Schäden zu verhindern, oder neue Modelle der Drogenregulierung etwa nach dem erfolgreichen Vorbild Portugals: In Portugal wird der Besitz geringer Drogenmengen zum Eigengebrauch nur noch als Ordnungswidrigkeit gewertet, Prävention und Unterstützung stehen im Vordergrund. Das hat das gesamte Justizsystem entlastet, der Drogenkonsum ist rückläufig, die Zahl der Todesfälle infolge von Überdosierungen und auch die Zahl der HIV-Infektionen ist stark gesunken.

Akzept e.V., der Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, und die Deutsche Aidshilfe haben nun den 6. Alternativen Drogen- und Suchtbericht vorgelegt. Schwerpunkt im Jahr 2019 sind Alkohol und Tabak.

6. Alternativer Drogen- und Suchtbericht: Schwerpunkt Alkohol und Tabak

Beim Alkohol- und Tabakkonsum liegt Deutschland weit vorn, nicht aber bei der Prävention und Regulierung der „Volksdrogen“. Schätzungen zufolge sterben jedes Jahr 74.000 Menschen an den Folgen von Alkoholkonsum (zum Teil in Kombination mit Tabakkonsum), die direkten und indirekten Krankheitskosten werden auf 40 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Gemessen an der Kaufkraft ist Alkohol in Deutschland zugleich extrem günstig.

Die Kosten für die Versorgung von Gesundheitsproblemen im Zusammenhang mit dem Rauchen belaufen sich nach aktuellen Schätzungen auf etwa 25 Milliarden Euro jährlich, die direkten Kosten unter Einbeziehung von Erwerbsunfähigkeit, Frühberentung und Todesfällen auf über 50 Milliarden Euro jährlich, zusammen also auf etwa 80 Milliarden. Zugleich ist Deutschland das einzige Land der EU, in dem noch Außenwerbung für Zigaretten zu sehen ist.

Vorn dagegen liegt Deutschland bei der Strafverfolgung von Cannabis-Konsument_innen: Mehr als 350.000 Straftaten im Bereich illegalisierter Substanzen meldete das Bundeskriminalamt (BKA) für 2018. Fast 80 Prozent davon machten „konsumnahe Delikte“ aus, das heißt Besitz, Erwerb und Abgabe psychoaktiver Substanzen. Diese Zahl steigt seit Jahren – vom Konsum abhalten lassen sich die Menschen offenbar nicht, die Sucht- und Drogenstrategie der Bundesregierung kann zumindest in diesem Punkt als gescheitert gelten.

Erforderlich: ein Neuanfang der deutschen Drogenpolitik

Die Herausgeber des 6. Alternativen Drogen- und Suchtberichts fordern daher einen Neuanfang der deutschen Drogenpolitik. Grundlage müsse eine Sucht- und Drogenstrategie auf der Höhe der Zeit sein, die alle Beteiligten einbezieht, sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen, den Erfahrungen von Konsument_innen und Praktiker_innen sowie an den Menschenrechten orientiert.

Das Amt der oder des Drogenbeauftragten solle neu zugeschnitten werden. Wichtig sei „eine Person mit langjähriger Erfahrung in Wissenschaft, Drogenpolitik und Suchthilfe und ohne unmittelbare Anbindung an die Politik“, die „für eine unabhängige Themensetzung und Strategiebildung auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Standes“ sorgen könne.

Die Deutsche Aidshilfe und akzept schlagen zudem vor, ein unabhängiges und interdisziplinäres Beratungsgremium für Drogen und Sucht einzuberufen, dem auch Vertreter_innen der Selbsthilfe von Drogenkonsument_innen sowie Suchtmediziner_innen angehören.

Ein Modell dafür könnte die interministerielle Arbeitsgruppe zu Drogen in Frankreich sein: Sie ist beim Premierminister angesiedelt und verfügt über ein eigenes Budget. In der Schweiz berät die unabhängige, gesetzlich verankerte Eidgenössische Kommission für Suchtfragen (EKSF) die Regierung (den Bundesrat) und entwickelt zukunftsweisende Ideen für die Suchtpolitik.

Die derzeit gültige Strategie der Bundesregierung wurde im Jahr 2012 veröffentlicht. Sie sagt allerdings nichts zu wichtigen aktuellen Themen wie der Prävention von Drogentodesfällen durch Naloxon, dem Drug Checking oder neuen Modellen der Regulierung von Drogen.

(hs)

Weitere Informationen

6. Alternativer Drogen- und Suchtbericht: https://alternativer-drogenbericht.de/bericht-2019/

Einladung zur Pressekonferenz zur Vorstellung des 6. Alternativen Drogen- und Suchtberichts am 5. Juli 2019

Deutsche Aidshilfe fordert unabhängige und fachlich versierte Drogenbeauftragte (Pressemitteilung vom 29. Mai 2019)

Deutsche Aidshilfe fordert bundesweite Strategie gegen Drogentodesfälle (Meldung auf aidshilfe.de vom 10. April 2019)

Deutsche Aidshilfe: Eine moderne Drogenpolitik nützt allen. Eine Handreichung für die Politik (PDF-Datei)

„Sollen alle Drogen kontrolliert verkäuflich sein? Langfristig ja“ (Interview mit Prof. Dr. Heino Stöver, Suchtforscher und Vorstandsvorsitzender von akzept e.V.; welt.de vom 4. Juli 2019)

Drogenexperte über Entkriminalisierung: „Wir brauchen eine Neuorientierung“ (Interview mit Dirk Schäffer, Drogenreferent der Deutschen Aidshilfe; taz.de vom 26. Juni 2019)