Jahrestag der Fassungslosigkeit
Liebe Leser*innen,
in diesen Tagen kommen die Bilder wieder hoch, die uns vor einem Jahr so fassungslos gemacht haben: von den Autos, die trotz der Aufschrift „Kinder“ von Gewehrkugeln durchsiebt werden; von Menschen, die in U-Bahnhöfen Schutz vor den Bombardements suchen, von herzzerreißenden Szenen an der Grenze, wenn Familien sich von den Vätern verabschieden müssen, und ja, auch von Menschen nicht-ukrainischer Herkunft, die auf der Flucht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Nach 365 Tagen sind die Bilder aus dem verheerenden Krieg, der so viele Leben, Träume und Zukunft zerstört, Teil unseres Alltags geworden.
Das Chaos und die allgemeine Überforderung auf vielen Seiten in den ersten Wochen des Ankommens der Geflüchteten haben sich gelegt. Dank einer immensen Welle der Hilfsbereitschaft haben viele Menschen eine Bleibe gefunden, sind im medizinischen Versorgungssystem angekommen, besuchen Integrationskurse und haben eine Arbeit aufgenommen. Auch wir als Aidshilfen haben es nicht zuletzt dank unserer Erfahrung im Aufbau von Netzwerken weitgehend geschafft, für Menschen mit HIV, Drogengebrauchende, Substituierte und LGBTIQ* die Unterstützung zu organisieren, die sie brauchen. Ein Höhepunkt bleibt die Teilnahme von ca. 50 Ukrainer*innen an den PositHIVen Begegnungen in Duisburg, die an die positive Community andocken konnten und auf der Demo selbstbewusst für ein Leben ohne Stigmatisierung und Diskriminierung eintraten. Inzwischen hat sich auch der Verein „PlusUkrDe“ gegründet, in dem Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Case Manager*innen, Jurist*innen, Aktivist*innen, Sozialmanager*innen, ehemalige Mitarbeitende von ukrainischen HIV-Diensten und NGOs als Anlaufstelle fungieren.
Völlig unklar ist allerdings, was aus den Geflüchteten ohne ukrainischen Pass wird, die mit befristeter Aufenthaltserlaubnis (z.B. für ein Studium) in der Ukraine gelebt haben oder dort im Asylverfahren waren und denen eine Abschiebung in die Herkunftsländer droht. Wir haben im Sommer die Petition #SchutzFürAlle gestartet, mit der wir auch für diese Gruppe ein Aufenthaltsrecht nach § 24 Aufenthaltsgesetz fordern.
Heute wollen wir den Blick auf die Queere Nothilfe Ukraine richten, die im letzten Jahr nach dem Ausbruch des Krieges in kürzester Zeit als beispielloses Aktionsbündnis vieler verschiedener Organisationen aus der LSBTIQ*-Community in ganz Deutschland entstanden ist und eine enorme Spendenbereitschaft aktivieren konnte. Aus den Geldern werden zum einen Notunterkünfte für queere Menschen in der Ukraine unterstützt – angefangen bei der Grundversorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten bis hin zur Beschaffung von Gehhilfen und Hormonpräparaten trans* Menschen. Zum anderen leistet das Bündnis Einzelfallhilfe und beteiligt sich an Gemeinschaftsprojekten z.B. zur Erst- und Nachversorgung nach Vergewaltigungen.
Wir ziehen den Hut vor allen, die sich in der Queeren Nothilfe oder in anderer Form für die Geflüchteten engagieren, oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Leider ist kein Ende des Krieges in Sicht, und viele Menschen werden für längere Zeit unsere Unterstützung brauchen. Bleiben wir solidarisch!
Herzliche Grüße,
Silke Klumb