Aufs Ganze schauen

Liebe Leser_innen,

ein denkwürdiges Jahr geht zu Ende, an dessen Beginn die Bilder von abgeriegelten Städten in China uns noch wie Science Fiction erschienen und wir unseren geplanten Projekten nachgingen. Nach der ersten Schockstarre Mitte März, in der wir alle unsere kontaktbezogenen Angebote einstellten, haben wir uns in der Bundesgeschäftsstelle ebenso wie auf Landesebene und in den Mitgliedsorganisationen vor Ort alles daran gesetzt, unsere Arbeit aufrechtzuerhalten und für die Menschen da zu sein, die sie brauchen.

Schon im März war uns bewusst, wie sehr das Gebot der Kontaktbeschränkung Menschen in ihrem Bedürfnis nach Nähe und Sexualität verunsichert, und wir haben als eine der ersten Organisationen mit ausführlichen Informationen auf aidshilfe.de und magazin.hiv reagiert. Die Abrufzahlen zeigen, dass wir den Nerv getroffen haben.

Wir alle haben Hygienekonzepte geschrieben, uns mit neuen Formen des Austauschs und der Vernetzung vertraut gemacht und gelernt, die Möglichkeiten von Videokonferenzen und anderen Online-Kommunikationsplattformen zu nutzen. Damit haben wir einen Prozess beschleunigt, den wir ohnehin angehen müssen, wenn wir den Zug der Digitalisierung mit all ihren Chancen und Herausforderungen nicht verpassen wollen.

Es hat sich schnell herausgestellt, dass Corona nicht alle Menschen gleich macht, sondern die benachteiligten Gruppen auch in dieser Pandemie sehr viel stärker von den Folgen betroffen sind, allen voran Obdachlose, Drogengebrauchende, Inhaftierte, Sexarbeiter_innen und Menschen ohne Papiere. Corona hat manche Tür geöffnet – wie die zur erleichterten Abgabe und Verschreibung von Substitutionsmitteln – und andere verschlossen, wie die von Bordellen, die in einigen Bundesländern komplett geschlossen bleiben mussten und in anderen nach vorübergehenden Lockerungen jetzt wieder verriegelt sind. Wir stehen an der Seite der Sexarbeiter_innen und fordern zusammen mit ihren Verbänden, dass die Prostitution nicht ins Verborgene verdrängt wird und unter gefährlichen Bedingungen stattfindet. Und für die queere Szene, in der durch die Schließung von Clubs und ausgefallene Events Existenzen bedroht sind, hat IWWIT die Kampagne #WirFürQueer als Sammlung von Hilfs- und Soli-Aktionen gestartet.

Besonders geschmerzt hat uns, dass wir im Sommer die Positiven Begegnungen, die größte Konferenz zum Leben mit HIV in Europa, von der alle zwei Jahre so viele wichtige Impulse aus den Communities für unsere Arbeit ausgehen, absagen mussten. Auch alle Bemühungen, einen adäquaten Ersatz an mehreren dezentralen Orten zu organisieren, scheiterten an den Corona-bedingt fehlenden Kapazitäten der Tagungshäuser. Die nächsten Positiven Begegnungen werden deshalb erst 2022 stattfinden können.

In den letzten Wochen dieses Jahres mussten wir uns von einigen Menschen verabschieden, die uns jahrzehntelang begleitet und den Verband geprägt haben: von Ralf Fuhrmann, der sich weit über Pforzheim hinaus in der Aidshilfe, als HIV-Schwerpunktarzt und Politiker für Menschen mit HIV, sexuelle Vielfalt und gegen Rechtsextremismus eingesetzt hat; von unserem Ehrenmitglied Gaby Lenz, die als eine der ersten Frauen in Deutschland ein positives Testergebnis erhalten hatte und danach mit ihrem Engagement – angefangen beim Netzwerk Frauen & Aids bis hin zum Nationalen AIDS-Beirat – anderen so viel Mut und Hoffnung gegeben hat; von der JES-Aktivisten Janka Kessinger, die für ein menschenwürdiges Leben für Drogengebraucher_innen und insbesondere die Ausweitung des Diamorphin-Programms kämpfte, und von Dörte Nittka, der langjährigen Knotenfrau für Schleswig-Holstein im Netzwerk Frauen & Aids, die u.a. im Vorstand der Lübecker AIDS-Hilfe und im Delegiertenrat unsere Arbeit mitgestaltet hat. Ohne diese Menschen wären wir nicht der Verband, der wir heute sind.

Zugleich durften wir in den letzten Wochen viele Erfolge feiern: Unsere Kampagne #wissenverdoppeln, mit der wir die Botschaft zur Nichtübertragbarkeit von HIV unter Therapie verbreiten, bekommt auch in der dritten Runde viel Aufmerksamkeit; die Arbeitgeber_innen-Deklaration #positivarbeiten wurde von hochrangigen Politiker_innen, Bundesärztekammer und Bundeszahnärztekammer unterzeichnet und wirbt nun auch international für Respekt und Selbstverständlichkeit im Umgang mit HIV-positiven Kolleg_innen, und die Gemeinschaftsaktion von DAS, BZgA und DAH zum Welt-Aids-Tag zeigt nun wieder „echte“ Menschen in ihrem Leben mit HIV.

Einen Überblick über die Schwerpunkte unserer Arbeit im letzten Jahr geben wir in der gerade erschienenen Publikation #Aidshilfe 2020.

Wir haben unsere Mitgliederversammlung, einen Fachtag zu den Auswirkungen von Covid 19 und schließlich sogar die Osteuropa-Konferenz mit 160 Teilnehmenden als Online-Veranstaltungen gestemmt und kreative Wege in der Krise gefunden. Corona wird uns auch noch weit ins nächste Jahr begleiten, doch mit dem Impfstoff kommt die Perspektive auf etwas mehr Normalität.

Und mit unserem neuen Zukunftspapier „Aufs Ganze schauen“ haben wir fünf Schwerpunkte vor Augen:

  1. Wir machen uns stark für sexuelle Rechte und Selbstbestimmung.
  2. Wir leben und fördern Vielfalt.
  3. Wir orientieren uns an den Lebensrealitäten der Menschen.
  4. Wir setzen uns für eine flächendeckende Versorgung für alle ein.
  5. Wir fordern und fördern eine solidarische Gesellschaft.

Wir rufen alle auf, mit uns daran zu arbeiten, dass die mit diesen Schwerpunkten verbundenen Ziele Wirklichkeit werden. In diesem Sinne wünschen wir entspannte Feiertage und alles Gute für 2021!

Herzliche Grüße,

Silke Klumb