Das kleine gallische Dorf am Jadebusen

Laut Wikipedia zählt Wilhelmshaven, eine an der Nordwestküste des Jadebusens gelegene Stadt mit 81.000 Einwohnern, zu einer von insgesamt elf europäischen Metropolregionen in Deutschland. Weiter heißt es da, dass die Stadt 1869 als erster deutscher Kriegshafen an der Jade eingeweiht wurde. Wilhelmshaven ist heute größter Standort der deutschen Marine und zweitgrößter Standort der Bundeswehr.

Vom Metropolencharakter spürt Susanne Ratzer, seit 1999 Geschäftsführerin der Wilhelmshavener AIDS-Hilfe und mit ihrer halben Stelle die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin, kaum etwas: „Für viele Menschen hier sind HIV und Aids so ein neumodisches Zeug. Wenn es das schon gibt, dann darf man doch nicht darüber reden, sondern muss es totschweigen. Wir leisten hier nach 25 Jahren immer noch Pionierarbeit.“

Immerhin gab es im Mai 1987 eine Schwulengruppe, die die Aidshilfe im Café Orlando gründete und viele Monate nach einem Vermieter suchte, der keine Vorbehalte gegen den neuen Verein hatte. Mittelpunkt der – rein ehrenamtlich – geleisteten Arbeit war in den ersten zwei Jahren die Aufklärung und Beratung für schwule Männer.

Das änderte sich, als ab 1990 die Zahl der HIV-Infektionen unter Drogengebrauchern rapide anstieg. In der Aidshilfe hielten die Junkies, Ex-User und Substituierten (JES) Einzug und organisierten die akzeptierende Drogenarbeit, die seitdem zu den wesentlichen Aufgaben des Vereins gehört. Noch heute nutzen monatlich 50 bis 60 Menschen den Spritzentausch oder suchen die Unterstützung der Aidshilfe, um in ein Substitutionsprogramm zu kommen.

Parallel dazu nahm die Schwulengruppe Nordsee-Wilhelmshaven in den Räumen der Aidshilfe an Fahrt auf: Sonntags gab es ein schwules Café und an einem Abend in der Woche ein schwules Beratungstelefon; ein schwuler Chor entstand ebenso wie eine Kabarettgruppe und eine schwul-lesbische Partykultur.

Doch auch nach 25 Jahren wollen Rat Suchende und Menschen mit HIV lieber nicht beim Betreten der Aidshilfe gesehen werden. Seitdem die Aidshilfe von einem Ladenlokal mit großen Schaufenstern in Räume im Souterrain umgezogen ist und es dort Vorhänge gibt, kommen doch immerhin rund 15 Menschen zum offenen Frühstück an jedem Freitag. „Wir fragen sie nicht, ob sie HIV-positiv, schwul, Drogengebraucher oder sonst was sind“, sagt Susanne Ratzer. „Jeder, der hereinkommt, ist einer weniger, der Berührungsängste hat.“

Um die Schwelle für Menschen mit Fragen so niedrig wie möglich zu legen, hat die Wilhelmshavener AIDS-Hilfe schließlich sogar eine eigene virtuelle Beratungsstelle eingerichtet. Die Idee dazu hat sich Susanne Ratzer als Teil des bundesweiten Online-Beratungsteams der Deutschen AIDS-Hilfe geholt. Die Beratungsstelle kann zwar ihre Angebote in der Beratung, Begleitung und Prävention nur aufrechterhalten erhalten, weil Susanne Ratzer oft bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geht und von ihren motivierten und verlässlichen Ehrenamtlern unterstützt wird. Trotz dieser äußerst knappen Ressourcen haben die Kolleginnen und Kollegen am Jadebusen immer viel wert darauf gelegt, über den Tellerrand zu schauen und Teil des Netzwerks der Aidshilfen zu sein: Neben dem Engagement in der Online-Beratung war Susanne Ratzer vier Jahre lang Mitglied im Delegiertenrat, der als „kleine Mitgliederversammlung“ die Richtlinien der Verbandsarbeit bestimmt; Andreas Tschöpe aus dem Vorstand engagiert sich zusätzlich als Rollenmodell in der bundesweiten Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“, die sich an schwule Männer richtet, und ein türkischsprachiger ehrenamtlicher Mitarbeiter leistet Online-Prävention im Health Support, einem vom Dachverband koordinierten Angebot auf der schwulen Plattform GayRomeo.

Susanne Ratzers spröder Kommentar dazu: „Wir sind eben ein kleines gallisches Dort, das sich nicht unterkriegen lässt und immer weiter nach vorne schaut.“ Folgerichtig sind für die Zukunft auch schon neue Projekte eingetütet: Im nächsten Jahr wird die Aidshilfe in Kooperation mit dem Gesundheitsamt des angrenzenden Landkreises Friesland einmal im Monat den Schnelltest anbieten – und es wird erstmals eine Selbsthilfegruppe geben, die das Motto „HIV-positiv und mitten im Leben“ auch in Wilhelmshaven Wirklichkeit werden lassen will.