4. Sozialarbeit und Beratung müssen stärker gefördert werden
Sexarbeit ist ein vielschichtiger Beruf, der diverse Aufgaben und Herausforderungen beinhaltet: Sexarbeiter*innen müssen einen geeigneten Arbeitsplatz finden, sexuelle Dienstleistungen erbringen, dabei die Risiken für ihr physisches und psychisches Wohlbefinden minimieren, Beziehungen zu Kunden anbahnen (oft durch die Verwaltung von Webseiten oder Profilen auf einschlägigen Online-Plattformen), ihr Geschäft finanziell, buchhalterisch und steuerlich verwalten, verschiedene gesetzliche Rahmenbedingungen beachten und vieles mehr. Es gibt jedoch keine Ausbildung, die auf den Beruf „Sexarbeiter*in“ vorbereitet. Zwar können Kolleg*innen wertvolle Tipps geben und Orientierung bieten, viele Sexarbeiter*innen arbeiten allerdings allein und es gibt nur wenige (geförderte) Angebote für Peer-to-Peer-Austausch (siehe Empfehlung 3). Deshalb haben viele Sexarbeiter*innen einen hohen Bedarf an Orientierung, Unterstützung und/oder Hilfe bei der Bewältigung ihres Arbeitsalltags. Das gilt umso mehr, wenn sie von weiteren Vulnerabilitätsfaktoren betroffen sind, zum Beispiel noch sehr jung sind, keine Deutschkenntnisse haben und/oder in der Illegalität leben beziehungsweise arbeiten.
Wenn keine Unterstützungsstrukturen für Sexarbeiter*innen bestehen, können Vermittler*innen, Zuhälter*innen oder auch Vermieter*innen diese Situation ausnutzen, indem sie vermeintlich Hilfe anbieten, in der Realität aber ein ausbeuterisches Verhältnis schaffen. Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich ableiten: Sexarbeiter*innen sollten nicht auf sich allein gestellt sein oder auf die Hilfe von ausbeutenden Personen zurückgreifen müssen. Sie können professionell von akzeptierenden Sozialarbeiter*innen und Berater*innen unterstützt, begleitet und beraten werden. Fachberatungsstellen, Drogen- und Aidshilfen sowie Gesundheitsämter haben durch ihre Angebote und Einrichtungen sowie durch aufsuchende Arbeit die Möglichkeit, einen engen Kontakt zu Sexarbeiter*innen zu pflegen – umso mehr, wenn zu den Mitarbeitenden Personen mit Sexarbeitserfahrung sowie Personen mit Sensibilität für unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe (zum Beispiel Personen aus denselben Ländern wie einige der Klient*innen) gehören.
Aus den Fokusgruppen-Gesprächen kristallisieren sich folgende Handlungsfelder heraus, die durch die Förderung entsprechender Angebote im Bereich der Sozialarbeit und Beratung angegangen werden sollten:
- Für Menschen, die darüber nachdenken, in der Sexarbeit anzufangen, sind Einstiegsberatungen in Fachberatungsstellen zu empfehlen. Dort können sie sachliche Informationen über Vor- und Nachteile des Jobs sowie über die aktuellen Bedingungen und Perspektiven in der Branche erhalten, sodass sie eine informierte Entscheidung für oder gegen einen Einstieg in die Sexarbeit treffen können. Auch können sie unmittelbar Tipps bekommen, sollten sie sich dafür entscheiden.
- Aufsuchende Beratung zur Erstkontaktaufnahme mit Sexarbeiter*innen, die bisher an keine Unterstützungseinrichtung angebunden waren.
- Förderung von Peer-Beratung und Peer-to-Peer-Austausch (siehe Empfehlung 3).
- Professionalisierungs-Maßnahmen für Sexarbeiter*innen, um einen möglichst hohen Grad an sicherem und selbstbestimmten Arbeiten zu gewährleisten. Dazu gehören beispielsweise die Vermittlung von Verhandlungs- und Durchsetzungstechniken sowie von professionellen Einstellungen gegenüber Sexarbeit und die Aufklärung über Rechte und Pflichten.
- Freiwillige und anonyme Beratung über Möglichkeiten zum Schutz der sexuellen Gesundheit müssen stark ausgebaut werden, insbesondere über weitere Safer-Sex-Methoden neben Kondomen – etwa PrEP (als zusätzliche HIV-Schutzmethode) und PEP (als Notfallmaßnahme).
- Manche Sexarbeiter*innen wollen mit der Sexarbeit aufhören, doch sie schaffen es aufgrund vieler struktureller Hindernisse wie fehlender Sprachkenntnisse, Analphabetismus oder Wohnungslosigkeit nicht. Um Sexarbeiter*innen bei der beruflichen Neuorientierung zu unterstützen, muss Umstiegsberatung gefördert werden. Für den Erfolg ist es überaus wichtig, dass diese Angebote akzeptierend sind. Insbesondere drogengebrauchende Menschen und Menschen ohne Papiere dürfen nicht ausgeschlossen werden. Die Umstiegsangebote müssen aber auch sexarbeitsakzeptierend sein und dürfen nicht voraussetzen, dass Klient*innen mit der Sexarbeit aufhören, während sie im Umorientierungsprozess sind. Zudem müssen die Umstiegsprogramme finanziell auskömmlich sein.
Damit sie diese überaus wichtigen Aufgaben und Funktionen erfüllen können, ist ein Ausbau finanzieller und personeller Ressourcen von Fachberatungsstellen (in den Bereichen Sexarbeit und Menschenhandel), Drogenhilfen, Aidshilfen und Gesundheitsämtern sowie die Etablierung neuer dauerhafter Angebote notwendig. Die Kürzungen im sozialen Bereich stellen eine ernste Bedrohung für viele aktuelle und zukünftige Sexarbeiter*innen dar. Wenn dieser Trend nicht gestoppt wird, ist als Folge eine Zunahme von Ausbeutung zu erwarten.