Binäres Geschlechtersystem
Die Infomappe richtet sich an Berater*innen in Aidshilfen.
Ratsuchende, die Fragen rund um HIV, Geschlechtskrankheiten und sexuellem Wohlbefinden haben, können sich an unsere Onlineberatung unter www.aidshilfe-beratung.de wenden.
Das binäre (westliche) Geschlechtersystem1 geht davon aus, dass es nur zwei Geschlechter, nämlich männlich und weiblich, gibt. Es lässt keine anderen Geschlechter oder Zwischenstufen zu.
Das gilt für jeden gesellschaftlichen Bereich, also z. B. die mit dem Geschlecht verknüpften sozialen Rollen, Geschlechtsidentitäten und körperlichen Geschlechter von Menschen.
Dieses System blendet vollständig aus, dass es intergeschlechtliche, nicht-binäre und andere Menschen, die nicht in dieses System passen, gibt.
Das binäre Geschlechtersystem wird im Alltag immer wieder durch Verhaltensweisen, Normen und Regeln hergestellt. Es wird im Zweifelsfall auch gewaltvoll durchgesetzt. Beispielsweise werden intergeschlechtliche Menschen unnötigen medizinischen Eingriffen ausgesetzt, damit sie einem binären Geschlechterbild entsprechen, oder Jungen erleben Gewalt, wenn sie gerne Kleider tragen oder mit Puppen spielen wollen.
Cis-geschlechtlich beschreibt die Menschen, die im ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht leben und sich damit identifizieren (von lat. cis = diesseits, als Gegensatz zu lat. trans = jenseits). Der Begriff cis wurde auch entwickelt, um trans* nicht als Abweichung einer binären, stereotypen geschlechtlichen Normierung zu werten.
Manche Menschen identifizieren sich nicht oder nur teilweise mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt aufgrund von äußeren Geschlechtsmerkmalen zugewiesen wurde. Ein Teil dieser Menschen identifiziert sich im binären Geschlechtersystem, also als Mann oder als Frau. Ein anderer Teil identifiziert sich weder als Mann noch als Frau, verortet sich also nicht im binären Geschlechtersystem. Ein verbreiteter Begriff, der dieses Spektrum an Identitäten beschreibt, ist non-binär. Weitere Begriffe, die Menschen nutzen, um ihre non-binäre Identität zu beschreiben, sind nicht-binär, abinär, genderqueer oder enby (enby = nb = non-binär).
Non-binär zu sein bedeutet nicht unbedingt, ein androgynes Auftreten zu haben. Eine Person, die sich als non-binär identifiziert, kann manchmal von anderen als feminin oder maskulin gelesen werden. Sie ist dadurch aber nicht weniger non-binär.
Mit welchen Begriffen sich eine Person identifiziert, ist individuell und kann sich im Laufe des Lebens auch ändern – weil zum Beispiel Menschen neue, passendere Begriffe kennenlernen oder die eigene Identität sich ändert. Gleiches gilt für die Personalpronomen, die eine Person verwendet.
Wichtig für die Beratung ist, dass wir die Selbstbezeichnungen und Pronomen respektieren, anstatt sie infrage zu stellen, nur weil sie mit unseren Vorstellungen zu einem Begriff nicht zusammenpassen. Gleichzeitig kann es wichtig sein, bei einer genutzten Bezeichnung genauer zu überlegen, welche Vorannahmen zu Körperlichkeit und Sexualität wir damit verbinden, um Menschen auch hier nicht unhinterfragt in Kategorien einzuordnen.
Geschlechtsinkongruenz und Genderdysphorie/Körperdysphorie
Wenn einzelne oder alle Ausprägungen des Körpers nicht mit dem eigenen Erleben bzw. Empfinden übereinstimmen, spricht man von Geschlechtsinkongruenz.
Ein Leidensdruck, der aus einer Geschlechtsinkongruenz entsteht, wird als Genderdysphorie oder Körperdysphorie bezeichnet. Nach der bislang in Deutschland gültigen Rechtsprechung muss ein solcher Leidensdruck diagnostiziert werden, damit Menschen einen Anspruch auf Kostenübernahme für bestimmte geschlechtsangleichende Maßnahmen haben.
Nachfrage statt Vorannahme
Wir können von der Stimmlage, dem Auftreten oder der Selbstbezeichnung einer Person nicht auf Körperlichkeiten schließen. Um eine Situation in der Beratung gut einschätzen zu können, ist es daher nötig, den Kontext und die Bedingungen zu erfragen. Wichtig ist hierbei, sensibel nachzufragen.
Beispiel
Bezeichnet sich eine ratsuchende Person als männlich und schwul, kann ich mich fragen, welche Vorannahmen zu Körperlichkeit und gelebter Sexualität ich im Kopf habe: Ob die Person zum Beispiel einen Penis hat oder nicht, kann bei der Risikoeinschätzung einer sexuellen Begegnung oder bei Fragen zur PrEP entscheidend sein.
In der Beratung können wir Menschen erklären, warum welche Informationen für uns relevant sind, nämlich für die Einschätzung von möglichen Infektionswegen. So können wir deutlich machen, dass wir nicht aus voyeuristischem Interesse fragen. Gerade trans* Personen machen in ihrem Leben häufig die Erfahrung, dass ihnen Menschen in medizinischen Kontexten oder auch im Alltag übergriffige Fragen zu ihren Genitalien stellen. Diese Erfahrungen können dazu führen, dass trans* Personen ablehnend gegenüber Fragen zu ihren Körpern reagieren, da diese verletzen oder traumatische Erlebnisse triggern können.
Als Berater*innen wissen wir, aus welchen Gründen wir bestimmte Details erfragen müssen. Die Ratsuchenden wissen das nicht immer. Was die Befragten dann von sich erzählen, bleibt natürlich immer ihnen überlassen.1
Beispiel
Fragt eine ratsuchende Person, ob bei einem sexuellen Erlebnis HIV hätte übertragen werden können, dann können wir zum Beispiel erklären: „HIV kann nur über bestimmte Wege in den Körper gelangen. Um das für deine Situation besser einschätzen zu können, kann es mir helfen, wenn du mir sagst, welche Körperteile, Schleimhäute und Körperflüssigkeiten in der Situation involviert waren. Alternativ kann ich dir allgemein etwas über die Übertragungswege von HIV erzählen und dann kannst du selbst einschätzen, was das für deine Situation bedeutet.“
Als Neogenitalien werden Genitalien nach einer geschlechtsangleichenden Operation bezeichnet, es sind also neu gestaltete Genitalien. Mit verschiedenen operativen Techniken werden so Neovagina, Neovulva und Neopenis gestaltet. Je nach Operation haben die Genitalien unterschiedlich viel Schleimhaut und Flüssigkeitsproduktion. Für die Beratung in Aidshilfe-Kontexten kann es mit Blick auf Infektionswege und Schutzmöglichkeiten relevant sein, ob Menschen Neogenitalien haben.
Es gibt bisher keine klare Studienlage zum HIV- und STI-Infektionsrisiko bei Narbengewebe nach geschlechtsangleichenden Operationen. In den verschiedenen Operationstechniken werden Schleimhäute unterschiedlich behandelt, sodass sich kaum pauschale Angaben machen lassen. Wie bei allen frischen Narben kann man aber davon ausgehen, dass während des Heilungsprozesses die Wahrscheinlichkeit einer Infektion höher ist.
Neogenitalien haben teilweise weniger Schleimhäute als andere Genitalien. Allgemein bedeutet weniger Schleimhaut sowohl weniger Eintrittspforten für Viren und Bakterien als auch weniger Flüssigkeit, die Viren und Bakterien weitergeben kann. Präventionsmaßnahmen sind dennoch sinnvoll. Je nach individuellem Körper können Kondome zum Überziehen oder Einführen eine Möglichkeit sein.
Die PrEP ist eine Maßnahme, mit der Menschen sich selbstbestimmt vor HIV schützen können, ohne von Sexualpartner* innen oder Präventionsmitteln, die bestimmte Genitalien voraussetzen, abhängig zu sein. Grundsätzlich wirkt die PrEP unabhängig von der Identität und körperlichen Eingriffen (z. B. Hormontherapie, OPs). Welches Einnahmeschema zu empfehlen ist, hängt von den vorhandenen Schleimhäuten und den jeweiligen Sexualpraktiken ab und muss individuell besprochen werden (weitere Informationen zu PrEP und trans*: siehe Kapitel 3 „Schutz vor HIV“).
Trans* Männer und non-binäre Personen mit Uterus und Eierstöcken können schwanger werden – manchmal auch dann, wenn ihre Menstruation ausbleibt – und manche trans* Frauen können Kinder zeugen. In der Beratung sollte die Entscheidung für oder gegen eine Schutzmaßnahme auch die Frage nach einer möglichen (un-)gewollten Schwangerschaft einschließen.
Um das individuelle Risiko in einer Situation einschätzen und z. B. eine PEP-Empfehlung aussprechen zu können, ist es wichtig zu wissen, welche Körperteile, Schleimhäute und Flüssigkeiten wie in den Sex involviert waren. Zwischen HIV-Medikamenten und den Hormonen Östrogen und Testosteron sind keine Wechselwirkungen bekannt. Daher sind weder bei der PEP-Einnahme noch bei der HIV-Therapie für trans* Personen besondere Voraussetzungen zu beachten.
Eine Hormontherapie bedeutet bei trans und nicht-binären Personen, dass sie Testosteron oder Östrogen verschrieben bekommen. Der Körper verändert sich durch diese Hormone entsprechend. Testosteron wird oft als Gel aufgetragen oder gespritzt, während Östrogen im Normalfall als Tablette in Kombination mit einem Präparat, das die Testosteronbildung verringert, eingenommen wird. Die passende Herangehensweise und Dosis wird meistens mit dem*der Psychotherapeut*in und dem*der Endokrinolog* in abgesprochen. Hormontherapien werden in Deutschland von Krankenkassen übernommen.
Quelle: https://queer-lexikon.net/2020/04/29/hormontherapie, verwendet unter der Lizenz CC BY-ND (https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de).
1 Das binäres Geschlächtersystem, verwendet unter der Lizenz CC BY-ND (https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de).