Fallbeispiel 2
Dürfen Ärzt*innen eine Behandlung ablehnen oder abbrechen, wenn ich meine HIV-Infektion offenlege?
Mit starken Zahnschmerzen geht Roger D. in die nächst gelegene Praxis für Zahnmedizin. Er schildert dem Arzthelfer seine Schmerzen und wird innerhalb weniger Minuten „außer der Reihe“ ins Behandlungszimmer geführt.
Dem behandelnden Arzt stimmt er zu, ihm eine Betäubungsspritze für die anschließende Behandlung zu setzen. Bis die Spritze wirkt, widmet sich der Arzt dem Fragebogen, den Roger D. eilig ausgefüllt hat.
Als er sieht, dass sein Patient HIV positiv ist, regt er sich auf: Das hätte Roger D. vorher äußern müssen. Er könne ihn nicht weiter behandeln, dafür hätten besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen.
Die Diskussion eskaliert, schließlich sieht Roger D. keinen anderen Ausweg, als die Praxis ohne weitere Behandlung zu verlassen.
Beschwerdestellen: Zahnärztekammer, Krankenkasse, Patientenbeauftragte*r des Bundeslandes
Unterstützung: Aidshilfen, Kontaktstelle HIV-bezogene Diskriminierung der Deutschen Aidshilfe. Anwaltliche Unterstützung kann sinnvoll sein.
Gesetzlich versicherte Patient*innen haben freie Wahl unter zugelassenen Kassenärzt*innen (§ 76 SGB V, → s. Freie Wahl der Ärztin*des Arztes). Diese Vertragsärzt*innen dürfen Kassenpatient*innen nicht aus unsachlichen Gründen oder willkürlich ablehnen. In medizinischen Notlagen sind Ärzt*innen verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zur Behebung der Notsituation zu ergreifen (→ s. Pflicht zur Notfallbehandlung).
Wird eine Behandlung abgelehnt, ist es für Patient*innen wichtig, die Gründe zu klären und zu dokumentieren. Eine HIV-Infektion stellt keinen sachlichen Grund für eine Behandlungsverweigerung dar. Bei einer abgelehnten Behandlung könnte man auch überlegen, Ansprüche auf Unterlassung, Schadensersatz oder Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend zu machen und eventuell eine Klage einzureichen (→ s. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz). Der Anspruch muss innerhalb von zwei Monaten nach dem Vorfall schriftlich geltend gemacht werden – lass dich beraten (→ s. Nützliche Adressen).
Auch wenn ein Behandlungsvertrag nicht schriftlich festgehalten wird, kann das gegenseitige Einverständnis durch „Indizien“ wie das Einlesen der Krankenkassenkarte, das Ausfüllen des Patient*innenbogens oder das Anamnesegespräch vorausgesetzt werden. Wenn man also aufgrund solcher Aktionen annehmen kann, dass ein Behandlungsvertrag eingegangen wurde, ist es nur noch schwer möglich, die Behandlung zu verweigern oder sie abzubrechen.
Geschieht das dennoch, müssen bei einer juristischen Auseinandersetzung die Abläufe in der Praxis oder im Krankenhaus möglichst genau betrachtet werden, um entscheiden zu können, ob möglicherweise bereits ein Behandlungsvertrag zustande gekommen ist, bevor eine Ablehnung weiterer Behandlung erfolgte.
Im beschriebenen Fall würde es sich sogar um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit handeln, wenn der Betäubungsspritze keine weitere Behandlung folgt.